Apokryphe Mythen


gesammelt und herausgegeben von Anselm O. Ambach





- sämtliche rechte bei station23 -










INHALT:



Fortunas Rache

Seths Geständnis









Fortunas Rache


(auf der anderen Seite:)


Der mächtige König war in fernen Ländern in den Krieg gezogen und hinterließ dem Rat der Minister, außer seinem Königreich zur Verwaltung, seine drei kleinen Töchter zur Obhut. Der Krieg aber dauerte an und wollte und wollte nicht enden, und während der König verschollen blieb, wuchsen die drei Mädchen zu jungen Frauen heran, die bald wegen ihrer Schönheit in allen Dörfern und Städten, ja, und auch in den Nachbarreichen von den Dichtern besungen wurden.
(Chor der Alten Männer im Hintergrund:)

Sie sind so unermeßlich schön,
Wie keines Menschen Auge je gesehen.
Kann dies ein gutes Ende nehmen?
Doch die allerschönste von ihnen war die jüngste Prinzessin; sie war von der Natur zugleich mit einem klaren Verstand und einem frohen, unbefangenen Gemüt beschenkt worden, während die älteste Königstochter mit Verschlagenheit und die mittlere mit Hinterlist, beide aber mit tiefstem Neid gegenüber der jüngsten versehen waren und es nicht ertragen konnten, daß die „Kleine“, ohne es selbst zu wollen, die Liebreichste von ihnen war. Die beiden älteren Königstöchter badeten und salbten und schminkten und kleideten sich um die Wette - jedoch umsonst! Kaum kam die jüngste Prinzessin unbekümmert und fröhlich einher, war aller Glanz und Schein, die viele, viele Mühe vergebens, und sie verloschen einfach, so wie die Sterne verlöschen, wenn die Sonne aufgeht. Natürlich wuchs das Unbehagen bald zu einer Wut, und so sannen sie Tag und Nacht darauf, wie sie das Übel aus der Welt schaffen konnten, und wenn sie nicht gewußt hätten, daß die Jüngste die Lieblingstochter des Königs war, hätten sie sie schon längst in einen „Unfall“ verwickelt. So groß war ihr Haß.
Eines Tages nun war auch die jüngste Prinzessin volljährig, der König aber immer noch verschollen, und so beschloß der Rat der Minister in Stellvertretung des König-Vaters und in aller Verantwortung, daß eine Brautwerbung in allen Dörfern und Städten und auch in den Nachbarreichen ausgerufen werden sollte, auf daß die vielen Freier in Scharen kämen.
Und die Herolde gingen durch die Lande und verkündeten die Brautwerbung mit Fanfaren einen ganzen Mond lang.
Doch niemand kam.
Keiner der Männer, Helden und Recken getraute sich, der Gatte einer dieser göttlich schönen Prinzessinnen zu sein; alle dachten, es würde jeder kommen, und keiner hätte eine Chance. Deshalb waren sie alle zuhause geblieben und der königliche Hof leer und verlassen.
Die beiden älteren Königstöchter hatten sich herausgeputzt mit Brokat und Diamanten und waren fassungslos; zusammen mit der jüngsten Prinzessin, die nur ein schlichtes Baumwollkleid trug und barfuß lief - ach, wie einfach und natürlich fiel ihr Haar auf ihre Schultern! -, irrten sie wie verloren zwischen den Prunktafeln, an denen niemand saß, mit den feinsten Speisen und den edelsten Delikatessen, die niemand aß, und den besten Weinen, die niemand trank, umher. Nur die jüngste Prinzessin nippte ab und zu von einer Schale oder Schüssel und sagte hintersinnig:
„Wir hätten vielleicht nicht so dick auftragen sollen, oder?“
Es war schon weit über Mittag hinaus, und es war sicher, daß keiner mehr kommen würde.
„Nun, wenn das so ist, dann gehe ich hinaus in den Garten und rühre mir eine neue Schminke nach einem ganz neuen Rezept an“, sagte Eryna, die ältere Königstochter.
„Ich komme mit und nähe mir ein neues Kleid“, schloß sich Erissa, die mittlere Königstochter, an.
Und sogleich hatten sie ihre Arbeitskittel angezogen, Mörser und Stößel, Tuch und Nadel genommen und sich hinaus in den Garten gesetzt, wo weiter hinten Helena, die schielende, bucklige und humpelnde Küchenmagd, die Gänse hütete.
Amrita, die jüngste Königstochter, aber hatte gesagt: ,,Ich glaube nicht, daß es so einfach ist, eine Prinzessin zu verheiraten“, und setzte sich an die größte Tafel und ließ es sich ersteinmal richtig schmecken.
Dann öffnete sie die Tore des Schlosses und lud das Volk zu Tische. Und alle kamen und speisten und feierten und prosteten der jüngsten Prinzessin zu:
„Hoch lebe Amrita! Hoch! Hoch! Hoch!“, während der eigens einberufene Hochzeitsminister etwas ratlos daherschaute.
(Chor der Alten Männer im Hintergrund:)

Das Schicksal nimmt nun seinen Lauf,
Unbeirrbar, machtvoll und gerecht.
Und unausweichlich. Gnadenlos.
Am Nachmittag ging die Prinzessin in den Garten hinaus und spielte mit Helena, der Magd, und den Tieren.
Die beiden älteren Königstöchter saßen immer noch bei ihren Handarbeiten, als sie einen vereinzelten Reiter näherkommen sahen. Sie erkannten ihn sofort:
„Der Chevalier de Paris!“ riefen sie wie aus einem Mund. ,,Oh, nein! Er kommt bestimmt, um die Schönste von uns zu freien!“
Sie waren entsetzt; denn der Chevalier war als der größte Weiberheld des Landes, der gewissenloseste Herzensbrecher aller Zeiten, berüchtigt, in Wirklichkeit aber nur ein kleiner Gigolo mit diesem wenngleich ebenfalls bedeutenden, dennoch sehr fragwürdigen Ruf.
„Er hat sich wieder ’mal die Freiheit herausgenommen, als letzter zu erscheinen“, knirschte Eryna.
„Du kennst ihn auch?“ fragte Erissa verwundert.
„Das ist doch egal ...“
Der Chevalier ritt geradewegs auf die zwei Königstöchter zu und sprach sie ohne Anrede und ohne die höfische Form an:
„Na, ihr beiden Grazien, ist die Brautwerbung schon in vollem Gange?“
Er schien sie nicht zu erkennen, sondern sie in ihren Arbeitskitteln für Mägde zu halten; und schon brodelte der Zorn in ihnen auf. Doch anstatt ihn zurecht zu weisen und davonzujagen, hatten beide im selben Moment den gleichen Einfall und warfen sich einen verschwörerischen Blick zu.
,,Es sind all die vielen Bewerber unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Gar zu groß sind doch die Ansprüche der Bräute, und keiner vermochte sie zu erfüllen. Nun seid Ihr der Letzte und habt die freie Wahl unter den zwei schönsten Frauen des Landes“, sagte Eryna.
Da fiel der Blick des Chevalier auf die wundervolle, liebreiche Amrita, die unweit von ihnen immer noch mit Helena und den Tieren spielte, und sofort war sein Verlangen entbrannt.
„Wer ist denn diese Schöne dort?“ fragte er und traf damit die Eitelkeit der beiden Königstöchter mitten ins Herz.
„Ähm, ja..., sie ist die dritte Braut, sie steht auch noch zur Wahl“, sagte Erissa und fügte heimtückisch hinzu: „Sie heißt Helena.“
„Helena“, wiederholte der Chevalier besinnlich, als ließe er den köstlichsten aller Weine über seine Zunge perlen. „Ich glaube, ich habe meine Wahl bereits getroffen.“
„Oh, bei der werdet Ihr es besonders schwer haben“, meinte Eryna.
„Wieso?“
„Naja, sie ist vielleicht nicht die Schönste, aber - wie die Welt nun einmal ist - die Anspruchsvollste. Sie behauptet, daß sie alles besitzt und nichts mehr bedarf“, munkelte Erissa.
„Oje, das klingt ja sehr entmutigend. Gibt es wirklich nichts, was ihr noch fehlen könnte? Ich wäre bereit, schon einiges in das Geschäft zu investieren.“ Und der Chevalier wühlte in seinen Taschen und drückte mit einer Geste der Großzügigkeit einer jeden der beiden Königstöchter einen verrosteten Schilling in die Hand, den diese peinlichst schnell in ihren Kitteltaschen verschwinden ließen.
Und so bahnte sich das Unheil an: Eryna hatte plötzlich eine teuflische Eingebung und raunte dem Chevalier hinter vorgehaltener Hand vertrauensvoll zu:
,,Es gibt tatsächlich etwas, das der Prinzessin noch fehlt.“
„So? Nun, dann sagt es mir doch; ich werde euch im Falle meines Sieges, wenn ich dann hier der König bin, reichlich entlohnen.
Vielleicht mache ich euch zu Köchinnen oder sogar zu Kammerzofen.“
Das war jetzt doch zuviel, und die beiden Königstöchter mußten sich hart beherrschen, um nicht ihre Wut und ihr wahres Wesen zu verraten. Sollte es bisher bloß ein Schabernack sein, den sie getrieben hatten, so wollten sie ihn nun als Strafe für seine Dreistigkeit in den Tod schicken. Am liebsten hätten sie ihm Amrita noch mitgegeben.
„Also“, sagte Eryna, „das einzige, was Helena noch fehlt, ist der Goldene Apfel.“
„So sprich, wie kann ich ihn erlangen?“
„Das ist sehr schwer; aber mit unserer Hilfe könntet Ihr es schaffen.
So hört, vor dem Anfang der Welt gibt es einen wilden Garten, in dessen Mitte liegt ein See, und in dessen Mitte befindet sich eine Insel, in deren Mitte wiederum eine riesige Esche steht. Und an dem höchsten Ast dieser Esche hängt der Goldene Apfel.“
„Wo soll das Problem sein? Nichts einfacher, als den Apfel nur zu pflücken!“
„Nein. Die Esche wird von einem hellsichtigen Einhorn und einem unbezwingbaren Löwen bewacht. Und niemand kommt an ihnen vorbei ...“
„Hm -“
,,Aber ich könnte Euch helfen“, sagte Erissa, „hier ist eine Tarnkappe, die Euch unsichtbar macht und mit der Ihr das Einhorn täuschen und überlisten könnt.“ Und sie zog eine alte bunte Narrenmütze aus ihrem Nähzeug, von der sie natürlich genau wußte, daß sie keinerlei magische Eigenschaften besaß.
„Und von mir‘, setzte Eryna hinzu, „bekommt Ihr ein absolut tödliches Gift, mit dem Ihr den Löwen überwältigen könnt.“
Und sie gab ihm ein Töpfchen mit einer alten, schon ein wenig ranzigen Schminke, die ebenfalls völlig wirkungslos war.
„Oho!“ rief der Chevalier überrascht aus, während er die Gaben wegsteckte. „Ihr beiden seid ja nicht zu unterschätzen. Ich glaube, wenn ich König bin, werde ich euch zu meinen Mätressen machen.“
„Aber lhr müßt Euch beeilen, denn Ihr müßt bis Sonnenuntergang wieder zurücksein; danach ist die Brautwerbung vorbei.“
„Keine Sorge“, verkündete der Chevalier siegesgewiß und spornte sein Pferd:
„Auf! Vor den Anfang der Welt!“
Die beiden Königstöchter aber schickten ihm noch ein böses Lachen hinterher.

Die Sonne ging gerade unter, als ein Reiter vom fernen Horizont heransprengte. War das etwa der vermeintlich längst tote Chevalier?
Ja! - Und lebendiger als je zuvor; heldenhaft strahlte er und hielt den Goldenen Apfel hoch, so daß ihn jeder sehen konnte.
Wie aber war das möglich? Wie war jener dieser tödlichen Falle entgangen?
Der Chevalier selbst schwieg über sein Abenteuer bis an sein Lebensende; nie machte er auch nur eine Andeutung, was damals geschah, und wir werden wohl niemals Gewißheit darüber erreichen; denn das Gerücht, daß das Einhorn einen Lachkrampf bekam, als er die Narrenkappe aufsetzte, und daß der Löwe die Nase kräuselte und sich knurrend zurückzog, als er den Schminktopf öffnete, ist doch gar zu unwahrscheinlich, und ein anderes Gerücht, welches besagt, daß der Chevalier die Insel nie betreten hatte, sondern den Adler, der um den Wipfel der Esche kreist, mit einem seiner verrosteten Schillinge bestochen haben soll, den Goldenen Apfel für ihn zu pflücken, ist noch viel unglaubwürdiger - weiß doch ein jedes Kind, daß der Adler absolut ehrenhaft und unbestechlich ist.
Wie dem auch sei, jedenfalls galoppierte der Chevalier mitten in den Hofsaal, wo noch immer das Volk schlemmte und schwelgte und Musikanten zum Tanz aufspielten und auch die Prinzessin und ihre beiden verblüfften Schwestern, der Hofstaat und das Gesinde feste mitfeierten.
(Chor der Alten Männer im Hintergrund:)

Dem Guten stets das Unglück folgt behenden Fußes.
Was schert den Himmel Wohl und Wehe?
O! Wie bange kann einem werden ...
Da schlug der Hofmarschall dreimal mit seinem Stabe auf, gebot Ruhe und vermeldete:
„Es ist doch noch ein Freier gekommen:
Der Chevalier de Paris!“
Im Nu formierte sich der Ministerrat, und der Hochzeitsminister trat vor und fragte den Chevalier:
„Habt Ihr Eure Wahl getroffen?“ Im Saale herrschte tiefste Stille, niemand wagte mehr, auch nur zu atmen.
„Ja. Meine Wahl ist auf die wunderbarste aller Frauen gefallen. Ich bitte um die Hand der schönen Helena zum heiligen Bund des Himmels.“
Einen Augenblick noch waltete abgrundtiefes Schweigen, dann aber brauste ein lachender und lärmender Sturm los, den der Hofmarschall vergeblich wieder zu beruhigen versuchte.
„Ist das Eure feste Absicht, Chevalier?“ schrie der Hochzeitsminister durch den Lärm.
„So fest, wie die Erde auf der ich stehe“, antwortete der Chevalier, ebenfalls schreiend, und übergab dem Hochzeitsminister den Goldenen Apfel als Brautgeschenk.
Der Ministerrat nickte bezeugend, und der Hochzeitsminister rief laut und deutlich aus, so daß es jeder hören konnte:
„Es sei! Hiermit erkläre ich dich und Helena als Mann und Frau im unlösbaren Bund der Ehe.“
Und unter den Hochrufen des Volkes, in die Luft geworfenen Hüten und Blumen und unter den staunenden Augen des Chevaliers trug der Hochzeitsminister den Goldenen Apfel an den Prinzessinnen vorbei und überreichte ihn der häßlichsten aller Frauen, der schielenden, buckligen und hinkenden Küchenmagd Helena, die ungläubig auf den herausgeputzten Edelmann starrte, mit offenem Mund, aus dem ein Spuckefaden zwischen einer ihrer zahlreichen Zahnlücken herabtroff.
Der Chevalier war außer sich vor Entsetzen.
„Betrug!“ krächzte er heiser. „Eine Verschwörung! Man hat mich entehrt und mir diesen Wechselbalg untergeschoben!“
„Einen Moment!“ mahnte der Hochzeitsminister. „Es war Eure eigene und freie Entscheidung!“
„Aber ich meinte doch eine ganz andere!“ flehte der Chevalier.
„So? Welche denn?“ Der Hochzeitsminister zog kritisch eine Augenbraue hoch.
„Na, jene Elfe doch, die schönste Frau der Welt!“ rief der Chevalier verzweifelt und wies auf den leeren Stuhl der Prinzessin Amrita, die aufgestanden und zu Helena hinübergegangen war, um ihrer Freundin als erste zu gratulieren.
Hilfesuchend wandte sich der Chevalier nun an den Ministerrat; doch dieser schwieg beharrlich.
„Hin und her“, sagte der Hochzeitsminister bestimmt, „Helena stand zwar nicht zur Wahl, doch habt ihr sie gefreit, und der Rat hat seine Bestätigung gegeben. Damit ist die Ehe gültig.“
So geschah es also, daß die häßlichste Frau der Welt, die gute, alte Helena, wider aller Erwartung zu einem schmucken Gatten kam.
Dieser aber raste:
„Schmach und Schande! Ich bin mit einem Ungeheuer verheiratet! Ich will sie nicht, nie und nimmer! Diese Ausgeburt der Hölle! - Das könnt ihr doch nicht mit mir machen!“
„Beruhigt Euch! Es ist nun einmal geschehen und läßt sich nicht mehr ändern. Fügt Euch in Euer Schicksal, anstatt Euch dagegen aufzulehnen“, riet ihm der Hochzeitsminister. „Und außerdem solltet Ihr von Eurer Gattin ein wenig respektvoller sprechen, wenn Euch der eheliche Frieden etwas wert ist.“
Und in der Tat! Als die ansonsten äußerst sanftmütige Helena die beleidigenden Worte ihres Bräutigams vernahm, wurde sie sehr, sehr zornig und warf dem Chevalier den Goldenen Apfel vor die Füße.
Was aber niemand wußte, war, daß der Apfel innen hohl war wie eine Büchse, und daß der Schöpfer des Universums vor undenklich langer Zeit alle Übel der Welt in sie hineingesperrt hatte, um die Lebewesen vor ihnen zu schützen.
Doch da schlug schon der Goldene Apfel auf den Boden auf, brach auseinander, und die Übel strömten hervor und überfluteten die Welt.
Helena aber, als sie sah, was sie getan hatte, weinte so bitterlich sieben Tage lang, und ihre Tränen waren so dick und so groß, daß bald die Meere über die Ufer traten und das ganze Land überschwemmt wurde und alle ertranken und in den Fluten umkamen.








Seths Geständnis


Über zehn Jahre lang hatte Horus nun schon Seth gejagt, um Rache zu nehmen für den Mord an seinem Vater Osiris, der mit Billigung der Götter verübt worden war. Und auch die überraschende Erkenntnis, daß Seth sein Onkel war, änderte Horus' Entschluß nicht, den Ruchlosen töten zu wollen. Im Gegenteil, der Brudermord bestätigte ihn noch in seinem Vorsatz.
Und jetzt hatte er ihn.
Hier in den Bergen Oberägyptens war Seth in ein Tal geflüchtet, dessen Ausgang durch einen Bergrutsch verschüttet war. Er saß in der Falle. Und Horus stürmte auf ihn los, schlug mit dem Donnerkeil wild auf Seth ein, der sich vergeblich zu verteidigen suchte. Anfangs noch sah es so aus, als wäre Seth überlegen. Er stach Horus ein Auge aus und hätte ihn sogar töten können, doch er zögerte er einen Moment, und Horus konnte sich losreisen. Dieser schien seine Verletzung gar nicht zu bemerken, sondern noch mehr Kraft aus ihr zu ziehen, und bedrängte Seth immer ärger.
Schließlich schlug er ihm die Waffe aus den Händen und schmetterte ihn mit einem gewaltigen Hieb zu Boden.
Da lag der Gehaßte vor ihm im Staub, wehrlos. Und Horus setzte ihm die Spitze des Blitzes auf die Brust, dort, wo bei einem Redlichen das Herz schlug, und sagte:
„Es ist aus, Seth. Jetzt wirst du für deine Untat büßen.“
Jener aber entgegnete:
„Bedenke, was du tust. Ich hätte dich töten können im Kampf ebengerade, aber ich habe es nicht getan. Es soll nicht noch mehr Blut in der Familie fließen.“
„Das sagst ausgerechnet du?“
„Ja. Und denke auch an deine Mutter.“
„Was hat die denn noch mit deinem unwürdigen Leben zu tun?“ Und da bemerkte er, daß Isis damals nichts gesagt und nur geschwiegen hatte, als er dem toten Osiris Rache schwor.
„Was ist mit meiner Mutter? Sprich!“ Und die Spitze des Blitzes bohrte sich in Seths Haut.
„Wir ... - wir hatten ... ein Verhältnis miteinander ...“
„Elender Lügner! Diese Verleumdung soll dir dein Leben retten? Und wenn es so wäre, dann ist die Befleckung meiner Mutter durch dich eher noch ein zusätzlicher Grund, dich endlich aus der Welt zu schaffen.“
„Ja, es ist wahr, Horus. Doch wisse auch, daß Osiris seiner Frau ihre Schwäche verziehen hat. Und auch mir hat er in seiner Güte und Weisheit vergeben, wofür ich ihm in aller Demut dankte. Es war also alles wieder gut. Bis zu jenem Tag, als Isis ihrem Gatten, der sich nach jahrelangem vergeblichen Wunsch auf Nachkommenschaft damit abgefunden hatte, eine unfruchtbare Ehe zu führen, als sie ihm also offenbarte, daß sie schwanger war. Da wollte Osiris mich töten.
Ich hatte keine Wahl. Bitte, glaube mir, es war Notwehr. Ich bin kein Brudermörder.“
Horus starrte mit seinem einen Auge fassungslos auf Seth und stammelte:
„Heißt das ...?“

„Ja, Horus, du bist die Frucht dieser Nacht: Du bist mein Sohn, und ich bin dein Vater.“








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