Die große Verschwörung



4. Teil:   Wach I



Inhalt :

NEU  WACH I

NEU 
Verrückt

NEU  Der Feuervogel

NEU  Begegnungen




- sämtliche Rechte: Verlag der anderen Seite / station23 -








WACH I



Es lag auf der Hand, daß die quäntchenweise Anhäufung neuer Wahrnehmungen irgendwann zu einer ganz neuen Qualität von Wirklichkeit umschlagen mußte, und Byrd spürte, wie der Tag immer näher kam.
Würde er verrückt werden?
Oder erleuchtet?
Oder beides?
Was immer geschehen würde, er rechnete inzwischen mit dem Extremsten. Und es ereignete sich, selbstverständlich, genau dann, als er es gerade überhaupt nicht erwartete.

Er saß im Zug, war unterwegs, nicht weit nach Norden, zu den „Göttersteinen“, einer imposanten natürlichen Berg-Skulptur, die aussah, als seien dort Riesen, und zwar fünf an der Zahl, mitten in ihrer Bewegung zu Stein erstarrt, mächtige Felsen, ein Gebirge aus Statuen, welches seit Menschengedenken als heilige Stätte von Heiden und Ketzern benutzt wurde. Unzählige Hände hatten im Laufe der Zeit Höhlen, Treppen, Reliefs, Zeichen und Figuren aus dem Stein gehauen.
Die Hauptattraktion aber war ein kleiner Altar-Raum im Kopf der größten Statue, der exakt nach Osten ausgerichtet war.
Seit einigen Jahren war das Gelände militärisch gesichert und durfte nur noch zu touristischen Zwecken verwendet werden. Doch kursierte das Gerücht, daß es einen geheimen Zugang gab, den nur Eingeweihte kennen.
Byrd wollte sich hier mit Herrn Bartholomäus treffen. Er hatte ihn vor langer, langer Zeit kennengelernt und schon damals mit Erstaunen bemerkt, daß jener ihn sofort in sein Herz geschlossen hatte. Warum - das war Byrd immer eine Rätsel gewesen. All die Jahre hindurch hatte Herr Batholomäus ihm immer wieder einmal mit einem nützlichen Rat geholfen. Und da Byrd erfahren hatte, daß Herr Bartholomäus sich zufällig gerade in der Gegend der Göttersteine aufhielt, hatte er sich dort mit ihm dort verabredet. Er hielt es nämlich für angebracht, den guten, alten Mann über seinen Wohnortwechsel und die anderen neuen Verhältnisse in seinem Leben in Kenntnis zu setzen.  
Nun saß Byrd im Zug und versenkte sich, begleitet vom Rhythmus der Gleisschwellen, in eine hohe Epsilon-Trance, nur so, aus Spaß oder zur Übung oder wie auch immer. Da fiel sein Körper in Schlaf, sein Geist jedoch blieb wach, ja, er wurde immer wacher! Noch nie war er sich seiner selbst so bewußt gewesen, und er wußte mit einem Mal, was es wirklich bedeutete zu sagen: „Ich bin.“ Dieses Verflochtensein in die Welt, wie in einem Netz, das einen entweder gefangenhält oder aber aus lauter Fäden besteht, an denen du nur zu ziehen brauchst.
Plötzlich veränderte sich seine Wahrnehmung radikal. Alles wurde von einem violett-gelben Flimmern überlagert, und viele Dinge um ihn herum, die er bisher nicht gesehen hatte, wurden sichtbar, einige andere verschwanden dagegen, und alles wurde durchsichtig wie Glas. Er hatte mit einem Mal die Gewißheit, daß er jetzt seine Umgebung, die ja immer noch die alte war, umfassender wahrnahm, als er es bisher getan hatte, sie war nun viel wirklicher. Eigentlich hätte er auch das Erscheinen unsichtbarer Wesen erwartet, doch seltsamerweise tauchte keines auf.
Nun fuhr der Zug in einen Bahnhof ein und hielt, während er gleichzeitig weiterfuhr. Byrd blieb in jenem Zug, der angehalten hatte. Draußen lag ein gemütlicher, alter Dorfbahnhof und rings um das Dorf eine Urlandschaft mit steilen, hohen Bergen und rauchenden Vulkanen und einem Urwald aus Mammutbäumen, von denen dicke Büschel Riesenlianen wie Gardinen herunterhingen, dahinter undurchdringlicher Dschungel.
Niemand war zu sehen.
Er stieg aus und ging nach vorn, in Richtung Lokomotive. Nach kurzer Zeit sah er den Lokführer aussteigen und auf sich zukommen. Es war ein freundlicher junger Mann mit leuchtend gelben Augen; er sagte:
„Guten Tag! Willkommen in der Traumzeit.“
Byrd stutze, obwohl er wußte, was der andere meinte. Der andere aber fuhr mit seiner Rede fort, als befänden sie sich bereits mitten in einem Gespräch, und erklärte:
„Du bist gerade eben zu einem umfassenderem Bewußtsein erwacht, herzlichen Glückwunsch.
Wie ich sehe, wunderst du dich nicht, daß die Geister Züge und Bahnhöfe und sonst wohl auch alles haben - und noch einiges mehr.
Komm mit, ich möchte dir den Antrieb der Lokomotive zeigen.“
Byrd wunderte sich über gar nichts mehr und folgte ihm nach vorn zur Lok. Im Führerhaus bat der andere ihn, ihm zu helfen, die Bodenplatten abzunehmen. Sie waren äußerst schwer und ließen sich nur mit großer Mühe zur Seite schieben. Darunter kam eine riesige Turmalinscheibe zum Vorschein, über einen Meter im Durchmesser, ein phantastisches Mandala in tiefen, leuchtenden Farben von hellstem Rosa über alle Gelbgrüntöne in fast schwarzes Braun fließend.
„Aus ihr gewinnt die Lokomotive ihre Energie. Sie hält fast ewig.“
Byrd staunte nicht schlecht. Dieser riesige Stein war ein Wunder. Doch seine Nutzung erst war genial. Er verstand, daß hier die Möglichkeiten um ein Vielfaches höher waren als im normalen Zustand in der normalen Welt.
Fast schien es, als ob hier nichts unmöglich war...
„Entschuldige bitte“, sagte der andere nun in einem vertraulichen Ton, „aber wie ich sehe, hast du noch nicht bemerkt, daß du dich immer noch in deinem Kokon befindest. - Darf ich dir behilflich sein?“ Und er strich ihm, noch ehe Byrd antworten konnte, mit der flachen Hand über die Augen, ohne ihn zu berühren, und Byrd fühlte, wie sich etwas von ihm löste, wie eine Schlangenhaut, etwas nebelig-weißes, in das er gehüllt gewesen war, und das sich jetzt verflüchtigte und verschwand.
Da sah er auf einmal die Wesen um sich herum, Menschen und Nicht-Menschen, viele, sehr viele - der Bahnhof war beinahe überfüllt mit Reisenden aller Art, kunterbunt und exotisch. Seltsame Wesen, von denen die allermeisten mit Menschen keine Ähnlichkeit hatten; manche von ihnen waren unbeschreiblich...
Und er erinnerte sich, daß er einige der Wesen und überhaupt diese Welt, wenn auch andere Gebiete von ihr, seit frühester Kindheit aus seinen tiefsten Träumen kannte.
Hier und da aber schwebten regungslose Menschen, wirkliche Menschen, in mattschimmernde Kokons gehüllt herum; manche von ihnen gingen schlafwandelnd zwischen den anderen Wesen herum.
Der andere erklärte:
„Dies sind normale Menschen, die gerade schlafen. Sie träumen, aber sie sind sich ihrer selbst dabei nicht bewußt. Sie sind passive Gäste hier und werden von allen, nun ja, fast allen hier toleriert, solange sie nicht stören. Außerdem schützt sie ihr Kokon gegen etwaige Angriffe.
Wenn jemand, wie du, mit vollem Bewußtsein die Grenze überschreitet, was nur äußerst selten geschieht, und für ihn die Traumzeit zum Bestandteil seiner Wirklichkeit wird, dann nimmt er sofort aktiv am hiesigen Geschehen teil, im Guten, wie im Schlechten. Natürlich ist dein Kokon jederzeit ein sicherer Schutz. - Darf ich dich fragen, woher du dein Mantra hast?“
„Ich benutze kein Mantra.“
„Aber wie bist du dann...?“
„Ich kenne meinen wahren Namen, schon lange“, antwortete er spontan, erst hinterher realisierend, was er da gerade gesagt hatte.








Verrückt !



Jetzt wußte Byrd, was er bisher nur vermutet hatte, nämlich daß es nicht nur die eine Seite der Realität gab, die offiziell akzeptiert war, sondern daß die andere Seite, die, von der allgemein geglaubt wird, sie hätte keine Bedeutung, oder wenn, dann nur eine private und subjektive, untrennbar mit zur objektiven Wirklichkeit dazugehörte.
Spätestens seit der Begegnung mit Orbes, vor Jahren, als lauter merkwürdige Dinge passierten, von denen Telepathie und die unmittelbare Erfüllung von Wünschen noch das Normalste waren, so erinnerte er sich, hätte er eigentlich schon von der Gültigkeit der verborgenen, „inneren“ Welt überzeugt sein müssen; aber - er und Orbes hätten ja auch beide zufällig genau gleich verrückt sein können, sozusagen synchron neben der Spur.
Waren sie natürlich auch, beziehungsweise umgekehrt: alle anderen waren es. Aber es war eben alles doch ganz anders. Denn diesen Zustand konnte man kontrollieren. Und Orbes, und Byrd auch, war in der Lage dazu.
Nun aber, wo Orbes weit weg war, wahrscheinlich an einem Palmenstrand faulenzte, hatte Byrd die definitive Gewißheit, daß er und einige andere wohl doch nicht verrückt, im Sinne von beschränkt, waren, sondern genau das Gegenteil. Er nahm zusätzliche, der normalen Realität benachbarte Existenzbereiche und deren Bewohner wahr. Und er konnte nun bewußt und absichtlich in diese Welt ein- und wieder austreten. Genauer betrachtet waren es für ihn, zumindest vorerst, mehrere verschiedene Welten oder Ebenen.
Er war sicher, daß man dort so, mit einem entsprechenden Bewußtsein, auch fliegen konnte, ja, ganz real fliegen, ohne jegliche Hilfsmittel. Und vielleicht sogar irgendwann einmal auch auf unserer Seite hier.
Er spürte plötzlich das Bedürfnis nach einem Lehrer, einem Meister. Jedoch war er wiedermal, wie immer, auf sich allein angewiesen.
So reiste er in der Folgezeit äußerst vorsichtig in den neuen Welten herum. Er kannte ja den Gesamtplan noch nicht, und hütete sich, sich dort drüben zu verirren. Das mag einigen der sogenannten Verrückten passiert sein, die irgendwo in der Traumzeit hängengeblieben sind, und deren Orientierung verschoben, eben „verrückt“, ist.
Er mußte sich also ab jetzt daran gewöhnen, ständig immer mehr Dinge und Wesen zu sehen, die für die anderen Menschen unsichtbar waren. Irgendetwas in den Leuten selbst schien sie daran zu hindern, bestimmte Wirklichkeiten zuzulassen.
Für ihn hingegen zeichnete sich die weitere Entwicklung schon deutlich ab: Die erweiterte Wahrnehmung und die erweiterte Erinnerung führten zu einem erweiterten Bewußtsein, welches zu einem wiederum erweiterten Lebensbereich mit entsprechend erweiterten Handlungsmöglichkeiten führte. Diese Entwicklung war aber immer noch nur ein Ausschnitt aus einem viel Größeren und Umfassenden, welches es galt sich zu erschließen.
Erforderte der Zustand der erweiterten Wahrnehmung jetzt am Beginn noch so viel Kraft von ihm, daß er ihn nur für eine begrenzte Zeit aufrechterhalten konnte, so war ihm doch das anzustrebende Ziel eindeutig klar: die Kontinuität des Bewußtseins. Dieses würde dann wahrscheinlich auch über den Tod hinaus bestehen bleiben, und wohl noch viele andere, ungeahnte Möglichkeiten bieten, vielleicht sogar die Reise durch die Zeit. Es ist der Zustand, der allgemein, ohne daß man eigentlich weiß, wovon man spricht, als Erleuchtung bezeichnet wird. Aber der Weg führte noch weiter, und der nächste Schritt war für Byrd auch schon absehbar. Es war das umfassende Bewußtsein, welches die komplette, lückenlose Erinnerung der gesamten eigenen Existenz und die komplette Wahrnehmung seiner Umgebung auf allen Ebenen enthielt. Was allerdings das wiederum für Möglichkeiten offenbaren würde, war selbst für Byrd mit seiner durchaus lebhaften Phantasie unvorstellbar.
Natürlich führte er immer noch ein normales Leben aus Wachen und Schlafen. Doch ab jetzt nahm er im Traum aktiv am Geschehen teil, und konnte die Gegebenheiten jener Welt bewußt benutzen. Und er staunte, wieviel es hier zu lernen gab.
Nächtelang erkundete er weite Gegenden der Traumzeit und gewann so nach und nach eine gewisse Übersicht.
Er mußte immer wieder feststellen, daß sich dort die Relationen anders verhielten als hier; ein Kilometer konnte ganz kurz sein, und ein Millimeter endlos lang. Außerdem gab es mehr als nur die drei bekannten räumlichen Dimensionen; er schätzte sie auf mindestens fünf, was die Orientierung erheblich erschwerte. So konnte zum Beispiel eine Straße einmal zu diesem und einandermal zu jenem Ort führen oder die selbe Wand eines Hauses gleichzeitig an die Wände zweier verschiedener, weit voneinander entfernter Häuser grenzen.

Auffällig ist, daß vom Traum aus gesehen das Wachen ein ebensolcher Schlaf ist wie umgekehrt: die Erinnerung daran ist nicht präsent, jedenfalls von seltenen Ausnahmen, den Wachträumen oder „luziden“ Träumen, abgesehen. Der entgegengesetzte Fall, die Erinnerung an sogenannte Träume vom sogenannten Wachzustand aus ist offensichtlich viel häufiger. Dennoch wird für den normalen Menschen der allergrößte Teil seiner seltsamen Erlebnisse in jenen fremden Welten für immer im tiefsten Unterbewußtsein verborgen bleiben, nicht zuletzt weil es für die meisten der jenseitigen Bedingungen und Geschehnisse und erst recht für die dort lebenden Wesen keine Begriffe, Bilder oder Analogien in der diesseitigen Wirklichkeit gibt, sondern es sich um Erfahrungen ganz spezifischer Sachverhalte handelt, die mit Worten nicht beschrieben werden können, weil sie von unserer Sprache, die ja nur das „objektive“ Denken reflektiert, nicht erfaßt werden. (Genauso wie es unmöglich ist einem Blinden ein Gemälde zu beschreiben oder einem Tauben eine Symphonie.) Sie lassen sich nicht in der Vorstellungs- und Gedankenwelt des normalen Wachbewußtseins vergegenwärtigen und kommen deshalb dem normalen Menschen gar nicht erst zu Bewußtsein.
Dennoch existiert diese Welt hinter dem Schlaf als eine der diesseitigen Welt absolut gleichwertigen Wirklichkeit, und sie ist auch nicht völlig getrennt von jener, sondern beide grenzen eng aneinander, ja, überschneiden sich vielerorts und beeinflussen sich gegenseitig, viel mehr als wir denken.
Dies mußte er von nun an ständig realisieren.
Und letztlich, das war die logische Konsequenz, würden beide Welten zu einer einzigen Wirklichkeit verschmelzen. Eine grandiose Aussicht.

Und eine gewaltige Aufgabe.








Der Feuervogel



Die Fähigkeit, auf die andere Seite der Realität wechseln zu können, eröffnete ihm ganz neue Möglichkeiten, die er natürlich gleich ausprobierte.
Als er bei den Göttersteinen ankam, stellte Byrd fest, daß das ganze Gebiet auch jenseitig abgesperrt war, durch eine hohe Steinmauer, die für die Menschen unsichtbar war und offensichtlich nicht wegen ihnen errichtet worden war. Die Machtspielchen betrafen also auch die verborgenen Bereiche der Realität. Den geheimnisvollen Zugang fand er übrigens nicht. So passierte er die Wachen als ganz normaler Tourist.
Das Gelände lag inmitten eines weiten Talkessels gebettet, rundherum bewaldete Berge. Der Grundriß war fast genau kreisförmig; die eine Hälfte des Areals war flaches Land, die andere Hälfte ein klarer, blauer See, und die Göttersteine standen in der Mitte, an der Grenze von Wasser und Land. Sie wirkten mächtig, als beherrschten sie die gesamte Gegend bis weit ins Umland hinein.
Den Altarraum im Kopf der größten Statue hatte man zu einem Restaurant ausgebaut und hatte eine Terrasse angehängt, so daß es nun aussah, als trüge die riesige Figur eine bunte Schirmmütze.
Es führte nur ein einziger Weg hinauf, eine vor Urzeiten in den Fels gehauene, enge, verschlungene Treppe mit unebenen, von zahllosen Generationen ausgetretenen Stufen, die sich um die Beine der zweiten Statue und weiter über deren Hüfte, den Rücken und die Schulter hinaufwand, von wo eine Brücke zum Nacken der Hauptfigur hinüberführte; wenige Schritte weiter betrat man dann den ehemaligen Altarraum in deren Kopf.
Das Restaurant und die Terrasse waren voller Touristen, die von als Kellner verkleideten Soldaten bedient wurden. Ihre Tarnung war für Byrd völlig durchsichtig, für die andern hingegen nicht, und er fragte sich, weshalb das Militär dieses Schauspiel betrieb, wo doch die Wachen an den Toren ganz unverhohlen Soldaten in Uniform waren. Es schien, als wollte man auf allen Ebenen auf einen Überaschungsangriff vorbereitet sein, ohne dies offen zu zeigen. Und die Touristen und ihr Treiben gehörten mit zur Tarnung.
Oben angelangt, sah er, daß Herr Bartholomäus noch nicht da war.
Es drängte ihn förmlich, dem gutmütigen alten Herrn mitzuteilen, daß er nun in Wahrstadt wohnte, und vor allem, daß er die Magie studierte. Er war gespannt, wie dieser darauf reagieren würde; denn sie hatten noch nie über derlei gesprochen. Byrd hielt den alten Herren für eher ‚sachlich‘, wenngleich äußerst tolerant. Und da er glaubte, ihm vertrauen zu können, wollte er ein Stück magischer Praxis vorführen, um ihm zu demonstrieren, daß sein neues Fach durchaus nützlich war: Er würde ohne Hilfsmittel an der steilsten Seite der Götterstatue hinab- und wieder hinaufklettern.
Bis Herr Bartholomäus kam, wollte er schon mal ein bißchen üben. Die steilste Seite ging nordwestlich die Schulter hinunter; in den Falten des Ärmels und des Hemdes und im Gürtel wuchsen viele exotische Gebirgspflanzen, Blumen wie Sträucher.
Er wechselte auf die andere Seite der Realität hinüber und wurde für die anderen Gäste und die Kellner-Soldaten unsichtbar! Sie sahen durchihn hindurch, er war für sie nicht mehr existent. Gleichzeitig aber wußte Byrd, daß es nur eine psychische Unsichtbarkeit war; er hatte die offizielle Seite nicht körperlich verlassen oder seinen Körper aufgelöst; er konnte sich selbst immer noch sehen, und er spürte den Boden unter seinen Füßen. Er stieg über das Geländer der Terrasse und kletterte mit traumhafter Leichtigkeit, sich an Felsvorsprüngen, Pflanzen und Wurzeln festhaltend, die senkrechte Wand hinab. Im Normalzustand wäre ihm das völlig unmöglich gewesen. Dennoch gab es auch hier einige gefährliche Überhänge, wo es galt, jeden Griff und jeden Tritt gut zu überlegen. Und da geschah es auch schon - ein Felsvorsprung löste sich unter seiner Hand, und er stürzte ab! Nein, im allerletzten Augenblick konnte er sich an einem großen, roten Edelweiß festhalten. Doch er hatte sich die Innenhand aufgerissen, so daß es ein wenig blutete und er nicht mehr so gut zufassen konnte.
Es gelang ihm, wieder Halt am Gestein zu finden, und er kletterte vorsichtig hinunter.
Schließlich gelangte er unten an; die Erde war dunkelbraun, fast schon schwarz, wie bester Ackerboden. Aber nirgends war eine Pflanze zu sehen, bis zum Horizont.
Da begann die Luft plötzlich zu zittern, und es erschien ein seltsames Wesen, das sich schnell näherte, ein großes Tier, mit Flügeln. Jetzt erkannte er es: es war ein  Feuervogel, ein mythisches Tier, von dem er bereits in alten Schriften gelesen hatte. Es sollte sich den Menschen gegenüber völlig unberechenbar verhalten, entweder gleichgültig, freundschaftlich oder feindselig. Es näherte sich ihm neugierig.
Byrd blieb still stehen und und beobachtete das Geistertier. Es war ein prächtiges Wesen, etwa so groß wie ein Mensch, mit leuchtenden gelben und roten Federn und einem mächtigen, buschigen Schweif wie eine Feuerlohe, der dem Wesen seinen Namen gab.
‚Nein, das ist kein Tier‘, wußte er auf einmal.
Der Feuervogel kam geradewegs auf ihn zu, und Byrd wußte absolut nicht, was er tun sollte.
‚Ruhig Blut‘, sagte er sich.
Da hörte er zu seiner Verblüffung eine Stimme in seinem Kopf.
„Tanze mit mir, wenn du kannst“, forderte ihn der Feuervogel auf.
‚Warum nicht?‘ dachte er.
Vorsichtig nahm er seine Position ein, und der Tanz begann.
Der Feuervogel gab alle Schritte und Figuren vor. Byrd brauchte sich ihm nur anzupassen und seinen Bewegungen zu folgen. Es war ziemlich einfach und begann, ihm Vergnügen zu machen. Der Tanz war geometrisch und gemessen, fast schon wie ein Ritual, und sehr kraftvoll, aber dennoch leicht und frei, und erfüllte ihn immer mehr mit Freude und Begeisterung, so daß er sich bald völlig gelöst dem fremden Wesen hingab, welches ihn mit unsichtbaren Kraftstrahlen umfaßt hatte und nun vollends führte.
(Byrd war anschließend ziemlich verblüfft; er hätte nie ein so perfektes Zusammenspiel zwischen einem Mensch und einem Geistwesen für möglich gehalten. Nun wußte er, daß Mensch und ‚Geist‘ sogar einen Bund fürs Leben und noch darüber hinaus eingehen können. - Dennoch, er hatte sich leichtsinnig einem Geistwesen hingegeben. Jetzt, im Nachherein, wußte er, daß das Wesen nicht bösartig war, was aber durchaus hätte der Fall sein können. Er hatte ein tierisches Glück gehabt; und dieses Risiko würde er nicht noch einmal eingehen.)
Irgendwann war der Tanz zuende, und schon war der Feuervogel wieder verschwunden. Und die alte Szenerie der Göttersteine erschien wieder.
Byrd kletterte, fast mühelos, zurück auf die Terrasse. Herr Bartholomäus war inzwischen eingetroffen.
„Na, Byrd, wiedermal zu spät“, sagte er etwas grummelig; aber Byrd wußte, daß der alte Mann es nicht so meinte.
Als Byrd nun zu sprechen beginnen wollte, winkte Herr Bartholomäus ab:
„Sie brauchen mir nichts zu erklären.“
Er wußte schon Bescheid, und es schien das Selbstverständlichste der Welt für ihn zu sein, daß Byrd nun in Wahrstadt Magie studierte. Dieser war überrascht und eigentlich enttäuscht. Er hatte wenigstens erwartet, irgendetwas sagen zu müssen, und sei es noch so bedeutungslos.
Aber das - ?

Trotzdem wollte er ihm sein Kunststückchen vorführen, um seine Entschlossenheit zu betonen.
„Sehen Sie, was alles mithilfe der Magie möglich ist. Ich werde jetzt hier an der steilsten Stelle des Felsens hinabsteigen“, sagte er. „Sie werden mich dabei allerdings nicht direkt beobachten können. Ich werde vor Ihren Augen unsichtbar werden und kurz darauf unten wieder sichtbar.“
Der alte Mann reagierte nicht. Fast schien es, als hätte jener ihn gar nicht verstanden, gar nicht gehört. Und Byrd war mit einem Male ziemlich verunsichert.
Er kletterte trotzdem über das Geländer, wechselte auf die andere Seite der Realität hinüber und begann den Abstieg zum zweiten Male. Im selben Moment aber stellte er fest, daß er seine Kräfte schon beim ersten Mal völlig verausgabt hatte, rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und stolperte hinab. Wieder konnte er sich gerade eben noch an einer Wurzel festhalten. Aber diesmal war die Wurzel zu dünn, sie riß ab, und er fiel, und er wäre sicher tief unten auf dem Boden zerschmettert - als er plötzlich spürte, wie jemand Unsichtbares ihn auffing und zurück nach oben trug.
„Danke dir, Feuervogel“, flüsterte er; doch dieser war schon wieder fort.
„Ich glaube Ihnen, daß Sie es ernst meinen“, meinte Herr Bartholomäus phlegmatisch. „Sie brauchen sowas nicht zu machen.“ Da sah er Byrds aufgerissene Hand und fragte: „Haben Sie sich gerade verletzt?“
„Nein, das ist vorhin passiert, als ich schon einmal hinuntergestiegen bin.“
„Ach so.“
Byrd bewunderte Herrn Bartholomäus‘ Gleichmut und völlige Gelassenheit. Aber gleichzeitig fand er es sehr schade, daß der alte Herr so völlig desinteressiert schien.

Anschließend ärgerte er sich darüber, daß er im plötzlichen Überschwange, auf die andere Seite wechseln zu können, sich so kindisch benommen hatte.
An jenem Tag beschloß er zwei Dinge: Erstens mußte er viel vorsichtiger bei der Erprobung magischer Techniken sein; denn sowohl der Tanz mit dem Feuervogel als auch der Sturz hätten ihn sein Leben kosten können. Und zweitens würde er nie wieder versuchen, jemandem nur zur Anschauung seine magischen Fähigkeiten vorführen.

Im übrigen war Byrd, als er abends nachhause kam, dermaßen erschöpft, daß er wie ein Stein ins Bett fiel und wie ein Toter drei Tage lang schlief. Das Überwechseln auf die andere Seite erforderte sehr viel Kraft.








Begegnungen



hatte er in der Folge mit vielen jenseitigen Wesen unterschiedlichster Natur. Manche sahen aus wie Menschen, manche wie Tiere, andere völlig fremdartig und unbeschreiblich, und wieder andere hatten geometrische Formen, Quader, längliche Röhren oder variable Erscheinungen. Jedes besaß seine ganz eigenen Farben und seinen ganz individuellen Ausdruck.
Anfangs waren solche Begegnungen immer ziemlich spannend; schließlich wußte er nie, auf wen er da gerade traf. Doch besonders wenn seine erweiterte Wahrnehmung nicht aktiv war, beunruhigte ihn allein das Wissen um die ständige „Präsenz“ unsichtbarer, anderer Wesen um ihn herum. Durch einige kleine Experimente stellte er aber schließlich fest, daß kaum eines von ihnen selbst seine Bewußtheit über seine eigene spezifische Daseinsebene hinaus erweitern konnte, um wiederum ihn wahrzunehmen, so daß er also für diese Wesen unsichtbar war, solange er nicht auf ihre Seite wechselte. Dabei galt offenbar als Grundregel, daß einer nur den sieht, der ihn selbst sehen kann, und umgekehrt.
Nach und nach gewöhnte er sich an die Tatsache, daß es in allen Richtungen Nachbardimensionen gab, und daß diese natürlich bewohnt und belebt waren wie seine eigene. Außerdem zeigte sich bald, daß die allermeisten dieser unsichtbaren Wesen harmlos und friedlich waren, der größte Teil sogar völlig desinteressiert an den Menschen und ihren Belangen, falls sie diese, wie gesagt, überhaupt zur Kenntnis nahmen. Jedenfalls schienen die wirklichen Bösewichter derzeit allesamt diesseitig inkarniert zu sein oder zumindest drüben bedeutend seltener vorkommen.


Die erweiterte Wahrnehmung vollzieht sich zuerst innerhalb einer Ebene als erhöhte Aufmerksamkeit und vertieftes Verständnis. Dann werden die Grenzen dieser Ebene verschoben, peu a peu, bis zu einem qualitativen Sprung, einem sich meist überraschend ereignenden vollständigen Überwechseln auf eine andere Ebene.
Von dieser Erfahrung aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Erkenntnis, daß die Welt aus unzähligen Ebenen besteht, und zwar nicht nur nach oben und unten, sondern auch nach links und rechts, vorn und hinten, innen und außen, und - nicht zu vergessen - gestern und morgen.
Diese verschiedenen Bereiche sind nicht von Natur aus getrennt, sondern sie überschneiden sich in aller Regel, genauer gesagt, sind ihre Ränder, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, ineinander überfließend, so daß letztlich alle Bereiche zusammen ein einziges großes Kontinuum bilden. Die eigentlichen „Grenzen“ zwischen ihnen werden vom jeweiligen kollektiven Bewußtsein jeder Spezies selbst gezogen, indem sie ihren Lebensraum aus ihrer Tradition und Gewohnheit heraus definieren. Diese willkürliche Prägung des Weltbildes durch die Begrenzung ihres Vorstellungsvermögens zwingt die Individuen für ihr ganzes Leben in ein Arreal, dessen Fiktivität und Beschränktheit sie nicht wahrhaben und deswegen auch nicht in Frage stellen, geschweige denn überwinden können.
Wenn man also mit klarem, erweitertem Bewußtsein ganz langsam hinüberwechselt, sieht man nach und nach einzelne Dinge erscheinen und andere verschwinden, im gleitenden Übergang, ohne Sprung, und man erlebt und erkennt die Schichtungen und Schachtelungen der Welt als ein zusammenhängendes Ganzes.
Natürlich haben die meisten Wesen am Leben ihrer Nachbarbereiche teil, wenn auch normalerweise nur unbewußt, so wie der Mensch im Traum, aber auch durch den sogenannten Zufall oder die Inspiration. Die bewußte wie die unbewußte Teilnahme in einem anderen Bereich kann sich dabei in ganz verschiedener Weise vollziehen, optisch, akustisch, intuitiv, astral oder auch real physisch. Katzen zum Beispiel haben an der anderen Seite von Natur aus teil und können Dinge und Wesen in weit über die Welt der Menschen hinausgehenden Bereichen wahrnehmen. Wir Menschen können dies bei ihnen beobachten: Katzen schauen manchmal plötzlich in irgendeine Richtung und fixieren dort etwas mit ihrem Blick, wo es - für den Menschen - nichts zu sehen gibt, für Katzen aber schon. Auf dieser Ebene kommunizieren Katzen auch untereinander.
Bisher hatte Byrd nur die verborgenen Seiten der normalen Wach-Realität wahrgenommen, also ihre unmittelbaren Nachbarbereiche; nun aber besuchte er auch weiter entfernte, von unserem Bereich unabhängige Ebenen, phantastische und unvorstellbare Welten, Landschaften wie von anderen Planeten, Unterwasserwelten ohne Himmel oder Luftwelten ohne Boden, oder ganz und gar abstrakte, unbeschreibliche Welten. Er wußte, um noch weiter über die unmittelbare und mittelbare Nachbarschaft seiner sogenannten Wirklichkeit hinaus in noch entferntere Bereiche zu gelangen, müßte er fliegen können. Konnte man das lernen? Sollte das tatsächlich möglich sein? ( - Nur ein Traum ... ?!)
Es war aber jetzt schon klar, daß er niemals dieses riesige multidimensionale Universum mit seinen zahllosen Parallel-, Ober- und Unterwelten auch nur annähernd würde erforschen können. Es war unmöglich, alle Bereiche, Ebenen und Sphären jemals zu kennen, und es wird wahrscheinlich auch niemanden geben, der sie alle kennt. Oder vielleicht auch nur den Gesamtplan besitzt. Es ist ja schon innerhalb einer einzigen Welt unmöglich, überall gewesen zu sein und alles zu kennen.
Jedenfalls waren alle Wesen an bestimmte, begrenzte Regionen gebunden, und es schien niemanden zu geben, der sich so zwischen den Ebenen bewegen konnte wie Byrd. Warum nicht? Warum er? Das war ihm selbst ein Rätsel. Vor allem schien es keine anderen Menschen zu geben, die bewußt die Ebene wechseln konnte. - Oder mußte er sie auch erst noch sehen lernen?





 


- Fortsetzung folgt -