Die große Verschwörung




3. Teil:   The Beat



Inhalt :

The Beat

Musik

Magie

Der Star-Gast

Was




- sämtliche Rechte: Verlag der anderen Seite / station23 -









The Beat



Und Byrds Musik?
Natürlich hatte er bald eine Band. Sie probten in Wahrstadt am Südbahnhof in einem stillgelegten, abgerockten Bahnwärterhäuschen unmittelbar neben den Gleisen. Piet spielte Gitarre und versuchte, so zu singen wie Mick Jagger, Ludo zupfte den Bass, und Zehni bearbeitete das Schlagzeug.
Es war der Blues und nichts als der Blues. Sie schafften jedesmal eine Kiste Bier. Und wenn die Band zum zwanzigsten Mal die gleiche Stelle falsch spielte, trommelte Byrd mit den Fäusten auf die Tür schrie gequält gen Himmel:
„Ich halt‘s nicht mehr aus!“
Dann wurde noch ein Joint gebaut.
Und laut waren sie! Die Regler bis zum Anschlag hochgezogen. Doch wenn erst ein Güterzug vorbeidonnerte, direkt neben ihnen, dann bebten die Wände.

Zuhause in der alten Mühle hatte Byrd sich unten ein Studio eingerichtet. Vor dem Mahlwerk mit seinen riesigen Zahnrädern befand sich ein Podest, das sich als Bühne anbot, und ein Sofa und ein paar Sessel vom Sperrmüll taten ihr übriges.
Byrd lud öfters Freunde ein. Und es fanden regelmäßig die verschiedensten Sessions statt, Jazz-Rock, Afrobeat, oder die abgefahrenste Avantgarde. Meistens war Mesh mit dabei.
Bei einer dieser Sessions tauchte Moss auf, ein Schlagzeuger und Conga-Spieler, mit dem er später noch viel Musik machen sollte. Moss war es auch, der Byrd bald darauf das „Jungle“ zeigte, einen heruntergekommenen Jazz-Club aus der Steinzeit, im dritten Subkeller an der steilsten Wand der Oberstadt, durch eine beinahe senkrechte Außenstiege auch von unten zu erreichen; hier liefen häufig Sessions, und hier lernte Byrd viele Musiker kennen.

Ansonsten spielte er oft für sich allein, abends wenn er seine Ruhe hatte. Seit einiger Zeit experimentierte er mit verschiedenen Klängen und Rhythmen und ihrer psychischen Wirkungsweise.
Eines Nachts, als er einen monotonen Conga-Rhythmus spielte, fiel er plötzlich völlig unerwartet in Trance. Vor Verblüffung wäre er fast wieder ins Tagesbewußtsein zurückgesprungen. Er realisierte sofort, was geschehen war: Er hatte den klassischen Schamenenrhythmus getrommelt, Viertelschläge in 108 bpm mit ganz gleichmäßier Betonung der einzelnen beats; es hatte keine fünf Minuten gedauert, und er befand sich „drüben“. Als er nach einiger Zeit den Takt verlangsamte, vertiefte sich die Trance, und fremdartige Bilder stiegen vor seinem inneren Auge auf und begannen von ihm Besitz zu ergreifen. Instinktiv beschleunigte er wieder und kam zu sich.
Irre! Er hatte eine ganz simple, aber höchst wirkungsvolle Technik zur Öffnung unserer Dimension entdeckt.
Nur wenige Tage später passierte dasgleiche, als er Vocal-Übungen machte. Der archaische Kammerton OM, auch Sonnenton genannt, nämlich die Frequenz des Lichts in den hörbaren Bereich hinunteroktaviert und etwa dem C entsprechend, hatte beinahe denselben Effekt, nur führte dieser Ton in etwas besinnlichere Gefilde. Das Verfahren aber war identisch: Eine leichte Senkung führte zur Vertiefung der Trance, eine Erhöhung zur Rückkehr.
Selbstverständlich gibt es ganz verschiedene akkustische Techniken zu den unterschiedlichsten Zwecken. Der Urschrei zum Beispiel dient der seelischen Reinigung, während andererseits die Meditation in absoluter Stille der Sammlung innerer Kraft dient und so weiter.








Musik



vor allem komplexe, bietet aufgrund ihres vielschichtigen Ausdrucksspektrums dem Geist die Möglichkeit, mehrere verschiedene Wahrnehmungen gleichzeitig miteinander zu verarbeiten, und zwar sowohl als einzelne Klänge, als auch als  zusammenhängendes Gesamtgeflecht: mit Melodie, Harmonie, Tempo, Rhythmus, Klangfarbe und Lautstärke besitzt Musik sechs Dimensionen, die alle außerhalb der drei Dimensionen Höhe-Breite-Tiefe des physischen Kosmos liegen. Die räumliche Position der Klangquellen, also deren Richtung, Entfernung und Bewegung, kommt erst zusätzlich im Konzert oder auf einer guten HiFi-Anlage zum Tragen; sie erleichtert dem Ohr die Differenzierung, ist aber nicht Voraussetzung für die Unterscheidung der sechs musikalischen Dimensionen. Ein geübter Hörer kann mühelos gleichzeitig mehr als zwanzig Instrumente auch aus nur einem einzigen Lautsprecher verfolgen.
Würden wir die einzelnen musikalischen Elemente und Formen mit definierten Inhalten besetzen, vergleichbar etwa wie man es im Atlantis der Kristall-Technologie tat, so wäre Musik das denkbar differenziertste Kommunikatiosmedium und dabei gleichzeitig der kompakteste Informationsträger der Welt, weit vor der Sprache, und sowieso noch viel weiter vor dem Bild. Damit enthält die Musik das Potential zu einer wirklichen universalen und umfassenden Sprache, die noch über die verbal-rationale und die sinnlich-emotionale Funktion hinaus besonders auch für abstrakt-mathematische Daten geeignet ist.
Doch allein Musik, so wie wir sie heute hören, also rein ästhetisch, ist schon eine einfache spirituelle Übung, Meditation im allerweitesten Sinne, und trägt somit zur Erweiterung des Bewußtseins in besonderem Maße bei, selbst wenn sie noch nicht einmal als Unterhaltung, sondern nur als Hintergrundkulisse genossen wird; denn durch Musik, besonders durch neue, bisher unbekannte Musik, werden verborgene innere Räume erschlossen und belebt, welche, und zwar egal ob im Konzert oder im Kaufhaus, die noch so fremdesten Menschen miteinander verbinden:
Wie heißt es doch so schön?
„Wo man singt, laß dich ruhig nieder;
böse Menschen haben keine Lieder.“
Ferner entspricht die ideale Studio-Aufnahme oder auch der ideale PA-Live-Mix, also wenn man alle Instrumente perfekt hört, was bei einer größeren Gruppe in der realen Situation nahezu unmöglich ist, der Wahrnehmung aus einer übersinnlichen, „astralen“ Position außerhalb der bekannten physischen Welt, die aber nichtsdestoweniger real empfunden wird.
Dabei sollten die Auswirkungen der Musik in der Realität niemals unterschätzt werden, jeglicher Musik, vom Kinderlied bis zur Oper und vom Marsch bis zum Love-And-Peace-Psychedelic-Underground.
Deshalb genießt der Musiker instinktiv bei den allermeisten Menschen eine Sonderstellung als einer, der Macht über die atmosphärische Stimmung in der Gesellschaft hat, und somit Macht über die Menschen. In archaischen Gesellschaften war der Musiker immer auch der Schamane und umgekehrt. Und damit hatte er auch Macht über die Geister und Götter.
Aber allein schon das ganz unbefangene und nicht auf einen bestimmten Zweck hin gerichtete Musizieren, sogar schon das Üben und Dilettieren, ist eine sprituelle Übung, die weit über bloße manuelle Fertigkeit hinausgeht; Konzentration und Imagination kennen wir ja bereits als Grundbestandteile eines jeden Rituals. Dazu kommen beim meisterlichen Musiker die Macht über die eigenen Emotionen und die freie kreative Gestaltung und auch Neuschöpfung von Stimmungen und Atmosphären. Nicht selten werden dabei spirituelle Höhen erreicht, die von dem Musiker gar nicht beabsichtigt worden sind, oder, wenn sein spirituelles Weltbild nicht oder unterentwickelt ist, von ihm manchmal noch nicht einmal als solche erkannt werden. Und er wundert sich selbst am meisten von allen Anwesenden über die phänomenale Wirkung, die er verursacht. Allerdings sind die wirklich großen Musiker allesamt auch spirituelle Meister, und jeder einzelne von ihnen hat seine musikalische Erleuchtung erhalten, und sie wissen dies ganz genau, auch wenn sie, meist aus gesellschaftlich-politischen Gründen oft genug kein Wort darüber verlieren.
Bei der spirituellen Bedeutung von Musik kommt es aber nicht auf das aktiv-kreative Musizieren an, sondern auf die sinnliche Eidetik und die daraus entstehende erweiterte innere Vorstellungswelt. So sind zum Beispiel die Gaben des absoluten Gehörs und die des absoluten Timings Ausdruck einer besonderen inneren Reife, nämlich der Fähigkeit einer kontinuierlichen Wahrnehmung und der objektiven und unverfälschten Erinnerung daran.
Die wirkliche spirituelle Bedeutung der Musik jedoch ist die Erzeugung künstlicher Welten. Und die Erschaffung neuer musikalisch-emotionaler Räume ist ein permanenter Entdeckungs- und Eroberungsprozess, in welchem der Musiker fast ununterbrochen entweder mit sich selbst oder mit seinen Kollegen und Konkurrenten streitet und kämpft. Man kann sogar von einen Imperialismus und Kolonialismus in der Musik reden, womit nicht nur die Hitparaden gemeint sind, sondern vor allem das Ringen um die neuesten Trends, Grooves und Sounds, um die neue noch nicht gekannte, „unerhörte“ Musik. Und nicht zuletzt entscheidet die päpstliche Allmacht der Produzenten über Leben und Tod von Werk und Schöpfer.
Seit der Erfindung des Synthesizers allerdings ist die Erschaffung neuer künstlicher Räume ein Kinderspiel geworden, und Produzent und Vertreiber benötigen den Musiker nicht mehr, um die Seelen der Menschen in bestimmte künstliche Räume zu führen.
Natürlich stellt sich bei der derzeitigen Dauerberieselung, vor allem mit seichter Pop-Musik, die wie jede Musik auf ihre Weise wirkt, hier: sauber, monoton und seriell, die Frage, was hier und heute gerade als globale emotionale Entwicklung geschieht.
Einerseits wird die Gesellschaft mit billiger, meistens leb- und liebloser Massenware überschüttet, die eigentlich nur eine einzige Wirkung hat: Massenhypnose. Die totale Übersättigung mit Klängen hat zur Folge, daß letztendlich keiner mehr aufmerksam zuhört. (Und beim Fernsehen die permanente Reizüberflutung mit Bildern, daß keiner mehr richtig hinsieht.) Diese Lähmung und Verdumpfung der Menschen ist, um in dem oben verwendeten Bild zu bleiben, nichts anderes als Seelensklaverei, bei der die Musik als Fessel fungiert.
Andererseits hat aber, wie wir oben gesehen haben, jede Musik eine bewußtseinserweiternde Wirkung, was ja grundsätzlich immer gut ist, selbst wenn der Einkauf im Supermarkt lediglich ein verlogenes, doch nichtsdestoweniger entspannendes Pseudo-Erlebnis der Copa Cabana simuliert.
Was also wird hier gespielt?
Ist es bloß Manipulation mit billigem finanziellen Zweck?
Oder wird da ein gewaltiges Experiment mit der Menschheit inszeniert? Auf einem viel größeren Plan.
Unter wessen Kontrolle?
Und mit welchem Ziel?

Egal vorerst - Byrd experimentierte weiterhin mit der artifiziellen Verschiebung der Dimensionen-Grenze.








Magie



Das ganze Universum ist eine gigantische, göttliche Symphonie. Alles dreht sich in einen einzigen kosmischen Tanz umeinander, die Planeten, Monde, Sonnen, Sonnensysteme, Galaxien und Galaxiensysteme , aber auch der Mikrokosmos, bis hinunter zu den kleinsten subatomaren Teilchen, alles kreist in seiner jeweiligen Geschwindigkeit um etwas, mit dem zusammen es wieder um etwas anderes kreist und so weiter, und alle diese Kreisbewegungen erzeugen dabei Milliarden und Abermilliarden von Tönen auf allen Frequenzen des gesamten Schwingungsspektrums. Alles ist Klang, Resonanz und Interferenz, Harmonie und Dissonanz, und jede Schwingung besitzt eine eigene Dynamik, ein eigenes Leben.
Dies wußte bereits Pythagoras. Und vor ihm Orpheus.
Es gibt zahllose Methoden, um sich in diesem Kontinuum unzähliger Zusammenhänge, gegenseitiger Einflüsse und Verquickungen zu orientieren und zu behaupten, und anstatt nur passiv den Kräften ausgeliefert zu sein, selber aktiv teilzunehmen und seine Möglichkeiten in eigener Verantwortung zu verwirklichen.
Grundvoraussetzung ist der Wille, welcher seinerseits von der Absicht her gereinigt, gefestigt und auf einen einzigen Punkt gebracht wird.
Der wichtigste Schritt ist nun die Herstellung eines verbindenden Kontinuums: Subjekt und Objekt müssen in Resonanz versetzt werden, damit der Wille hinüberfließen und wirken kann. In gleichem Maße fließt Wissen über das Objekt zurück, wodurch der Wille wiederum immer stärker konzentriert wird. Die tatsächlich ausgeübte Macht hängt aber immer von der inneren Größe und Stärke des Einzelnen ab. Eine Wurm wird nie Berge versetzen können.
Dieses Feedback-Kontinuum kann auf verschiedene Weise hergestellt werden. Entweder durch einfaches Lernen, also durch maximale Information, oder durch reine manuelle oder instrumentelle Praxis, falls nötig responsive möglich, oder bei unstofflichen Vorgängen durch eine rituelle Atmosphäre, oder durch reine Kontemplation, oder - für den absoluten Könner und Meister - durch vollkommene Selbsthingabe.
Manchmal stellt schon das Unbewußte das erforderliche Kontinuum her, und dann findet soetwas wie intuitives Verstehen oder Inspiration statt. Oder der sogenannte Zufall. Glückspilze besitzen diese Gabe von Natur.
Aber nicht vergessen, das Kontinuum, besonders falls es rituell hergestellt worden ist, wieder zu entfernen, wenn es nicht mehr benötigt wird! Es kann sonst eine Eigendynamik entwickeln und außer Kontrolle geraten.
Das älteste und einfachste magische Medium ist die Musik. Allerdings will auch die musikalischer Erzeugung der diversesten Stimmungen, Atmosphären und Kontinuen gelernt und beherrscht sein. Am allermeisten kommt es dabei auf die Kontinuität der Klänge an. Es empfehlen sich, vorerst, möglichst einfache Strukturen; vor allem die unscheinbaren, unspektakulären Motive und Figuren eignen sich besonders gut zur magischen Verwendung. Nach bereits nur relativ kurzer Zeit kann uneingeschränkt jedermann, sogar viele Tiere, deutlich die Veränderung der Atmosphäre spüren.
Die erste Stufe der Kontinuität wird in etwa drei bis fünf Minuten erreicht; der Klang steht von selbst im Raum, auch wenn der Musiker ihn variiert oder verläßt. Alle Anwesenden fallen in eine leichte Trance, und bereits hier sind einfache Phänomäne wie emotionale Telepathie oder assoziative Inspiration möglich.
Die zweite Stufe erfordert nach ungefähr zehn bis zwanzig Minuten einen plötzlichen und definitiven Wandel des Klanges. Es empfiehlt sich eine weitere Reduktion. Dieser Kontrast bewirkt ein Umsteigen, ein Überwechseln in eine tiefere Trance, wo Phänomene wie Clair-Voyance, Prophetie oder der Kontakt zu unkörperlichen Wesenheiten stattfinden können, mindestens aber archaische Visionen auftreten.
Die dritte Stufe der Kontinuität wird mithilfe eines kleinen Tricks erreicht, des sogenannten „Anhaltens“. Hierbei verläßt der Schamane die materielle Welt und operiert direkt in den Ober- oder Unterwelten. In diesem Zustand werden Telekinese, Materialisationen und Dematerialisationen oder Heilung bewirkt.
Auf der vierten Stufe der Kontinuität finden, im Geisteszustand des „vollkommenen Seinlassens“, Schöpfungen aus dem Nichts statt. Wie dieser Zustand aber erreicht wird, war Byrd vorerst noch unklar.









Der Star-Gast



Es war ein nicht enden wollender Spätsommer, die Freunde alle fortgefahren, und die Ferien wurden langsam zur Routine.
Er war noch nicht ganz fünfzehn und blickte eigentlich nichts von den Realitäten um sich herum, geschweige denn dahinter. Aber eines wußte er bereits: Es gibt etwas ganz Großes im Leben, das ist, wenn‘s losgeht, so richtig, wenn du‘s gerade gepackt hast, mit beiden Händen, oder es dich, wenn das Ungeahnte wahr wird und du teilhast an einer mächtigen schöpferischen Kraft, wo du plötzlich im Kreuzungspunkt der Dimensionen stehst und spürst, wie gewaltige Energien durch dich strömen, wo das winzige menschliche Bewußtsein die himmlischen Sphären streift und von einem überirdischen Geist durchatmet wird und du an einer geradezu kosmischen Überlegenheit teilhast und du dich dabei selbst völlig vergißt.
Diese Erfahrungen, die man, wie er feststellte, fast überall machen konnte, wurden schon bald zum Mittelpunkt seines Interesses. Sie waren ihm Fenster zu einer anderen Welt, Türen aus der alltägliche Enge von Raum und Zeit, und das einzige Ziel, für das es sich wirklich zu leben lohnte.
Am Nachmittag war er stundenlang durch die sonnigen Wiesen und die schattigen Wälder gestreift und hatte wieder einmal das Gefühl gehabt, der einzige Mensch auf Erden zu sein.
Als er dann abends nach Hause kam, war ebenfalls niemand da.
„Wunderbar, dann kann ich ja eine Runde trommeln.“ Er hatte nämlich versprochen, nur dann Schlagzeug zu spielen, wenn alle fortwaren. (Was er ja auch einsah.)
Sein Schlagzeug war auf der schattigen, kühlen Seite des Dachbodens aufgebaut. Hier oben gefiel es ihm überhaupt sehr gut. Die Dachbalken verliefen so schön kreuz und quer, es war dunkel und gemütlich, und er hatte ein paar farbige Lampen angebracht und Musik-Poster und die Hüllen seiner besten Schallplatten aufgehängt und aus einigen Apfelsinenkisten sogar eine Bar gebaut.
Am besten aber war, daß man hier immer allein sein konnte.
Er schaltete sein riesiges altes Dampfradio an. Sie brachten gerade einen geilen Sound. Und er war wiedermal genau in dieser bewußten Stimmung, drehte die Musik auf die angesagte Power hoch und setzte sich an sein Schlagzeug. Wenn man richtig drauf war, brauchte man sich nur in den Sound einzuklinken, das war, wie sich fallen zu lassen. Eigentlich ganz einfach. Und jetzt war er richtig drauf.
Die Nummer im Radio wurde immer besser. Er hatte sie noch nie zuvor gehört; die Melodie und der Rhythmus waren einfach perfekt, und er hätte gerne den Namen der Band gewußt, doch er hatte die Ansage verpaßt. Die Musiker hoben immer mehr ab, er konnte es kaum glauben, daß man so gute Musik machen konnte. Und irgendwann stellte er fest, daß ja auch er selbst so gut spielte wie nie zuvor. Er flog davon, wie in einem Wirbelsturm riß es ihn mit.
Während er mit der Musik weiterspielte, stand er auf, trat aus sich heraus, und ging hinüber an die Bar, um etwas zu trinken. Dort stand eine ältere Frau, die direkt - ohne daß er überhaupt dazu kam, sich zu wundern, wer sie war und wie sie überhaupt hier hereinkam - zu ihm sagte:
“Aber du kannst doch jetzt nicht einfach aufhören zu trommeln!“
„Doch“, erwiderte er, zeigte über die Schulter nach hinten, wo wie er wußte, er ja immer noch am Schlagzeug saß und spielte, hob sein Glas und sagte „Prost.“
Das Bier war zwar ein bißchen abgestanden, aber es schmeckte noch, wenn man Durst hat. Als er das Glas absetzte, sah er mit Staunen, daß die Frau sich verändert hatte; sie war jetzt vielleicht so alt wie er oder ein Jahr älter und sah verdammt gut aus.
„He!“ rief er. „Was machst du da?“
Aber sie lachte nur und blickte ihn verschmitzt an, als wollte sie sagen: wenn du erst wüßtest, wie sehr du selbst ...
Zuerst fühlte er sich da ganz schön unsicher; aber dann mußte er auch lachen. Sie hielt jetzt ebenfalls ein Glas und prostete ihm zu. Gerade war sie ungefähr fünfunddreißig und trug eine Brille und streng nach hinten gekämmte Haare; und nun verwandelte sie sich in eine dunkle, lockige zwanzigjährige.
„Wer bist du eigentlich?“ wollte er wissen.
Sie aber antwortete hintergründig lächelnd: „Frag dich selbst!“
Da fiel er plötzlich in einen traumähnlichen Zustand, obwohl er nach wie vor wach blieb, ja vielleicht viel wacher als sonst war, die Zeit schien sich aufzulösen, und er erinnerte sich, woher er sie kannte: Sie war jene verhutzelte, alte Frau gewesen, die ihm seinerzeit diese mysteriöse ‚Nervenwaffe‘, ein Kästchen mit Kapseln wie Tintenpatronen gegeben und ihm damit eine heiße Verfolgungsjagd mit irgendwelchen fiesen Geheimagenten beschert hatte. Zum Glück war alles gerade nochmal gut ausgegangen.
„Du, da muß ich dich noch etwas fragen“, sagte er. „Was war das eigentlich für eine merkwürdige ‚Nervenwaffe‘. Ich bin mir bis heute nicht im klaren, worum es damals wirklich ging.“
Da wurde sie ernst und antwortete:
„Das ist eine ziemlich komplizierte Geschichte. - Nur soviel: Die Kapseln waren für einen guten Freund von mir, der sie dringend benötigte; er ist Schriftsteller. Ich selbst konnte sie ihm nicht bringen, sondern mußte die anderen auf mich ablenken, während nur jemand völlig unbedarfter, jemand wie du, eine reale Chance hatte durchzukommen. Und so geschah es dann ja auch; unser Vorhaben gelang. Wir danken dir nochmal für deine Hilfe.“
„Ja, aber wer waren diese ‚Anderen‘?“
„Ach“, sie zuckte mit den Schultern, „es gibt immer irgendwelche Idioten, die sich in anderer Leute Leben einmischen.“
„Wie: einmischen?“
„Naja, die meinen, sie müßten die anderen kontrollieren. Beherrschen.“
„Nun, also mir kam es fast wie Krieg vor.“
„Tja, war es eigentlich auch.“
„Wer aber waren die ‚Anderen‘?“ wiederholte er seine Frage.
Sie sah sich unsicher um und sagte mit gesenkter Stimme:
„Sie heißen, oder besser: sie nennen sich H...“
Auf einen Schlag gefror das Bild vor Byrd. Die Frau, sie war jetzt Ende zwanzig und blond, dahinter die Bar und die Poster - alles war plötzlich starr und kalt, wie in Eis eingeschlossen. Instinktiv packte er das ganze Bild wie an einem Rahmen und rüttelte es. Langsam taute es wieder auf und begann sich zu beleben. Mit einem Ruck lief es es ein paar Szenen zurück, und die Frau sagte:
„Du kannst das ganze Leben als Kampf auffassen, wobei es aber eine echte Kunst ist, alle seine Regeln zu beherrschen.“
Byrd wußte mit einem Mal, daß, wenn er sie noch einmal nach den ‚Anderen‘ fragen würde, sie ganz und gar verschwinden würde. Und mit ihr die Musik. Und vielleicht sogar der ganze Dachboden. Er spürte die Gefahr plötzlich deutlich und unmißverständlich, wie eine Warnung.
‚Scheiße‘, dachte er. ‚Es gibt die ‚Anderen‘ also immer noch!‘
Die Frau, jetzt eine stolze Matrone mit lila gefärbtem Haar und Federboa, sprach ganz selbstverständlich weiter:
„So wie die alten Samurai. Oder dieser Indianer da in Mexico, der gerade einen jungen Amerikaner in die Kunst des Kriegers einführt. Und bei meinem guten, alten Freund verhält es sich so ähnlich, nur ist er Schriftsteller.“
„Ich sehe das Leben aber nicht als Kampf. Ich finde die Welt schön und halte alles nur für ein Spiel“, entgegnete er fest entschlossen.
„Du hast ja recht“, lachte sie frei, als wäre sie erleichtert. Erleichtert, daß er nicht weiter nach den ‚Anderen‘ fragte? „Für mich ist auch alles nur ein Spiel. Deshalb bin ich ja hergekommen.
Aber es ist letzten Endes wirklich unwichtig, ob du das Leben als ein Spiel oder als Krieg, Lust oder Last oder sonstwas ansiehst. Es kommt nur darauf an, sich ehrlich zu entscheiden und konsequent aus innen heraus zu handeln.“
Er hatte die ganze Zeit Schlagzeug gespielt, die Musik groovte wie irre, und der ganze Raum und alles vibrierte im Rhythmus mit. Er schwebte mittlerweile auf einem fliegenden Teppich zwischen blauen Wolken an einem orangenen Himmel.
Da riß es wie ein Schleier vor seinen Augen:
Er befand ja auf der Bühne! Und alles war „live“ abgelaufen, in einem riesigen Saal vor tausenden von Leuten! Im selben Augenblick war auch die Musik zuende, der Schlußakkord verklang, und der Beifall des Publikums toste in seinen Ohren.
Er sah zum Mikrophon hinüber, da stand sie und lachte zu ihm her. Und die anderen Musiker wandten sich ebenfalls zu ihm um, lächelten verschmitzt und grüßten ihn.
Sie begannen ein neues Stück und kamen dann zu ihm ans Schlagzeug rüber und nahmen ihn in ihre Mitte. Und während sie auf der Bühne weiterspielten, saß er hinten mit den Musikern an der Bar auf seinem Dachboden, und sie spaßten und tranken ein gold-grün leuchtendes, wundervoll schmeckendes Getränk.
„Was ist das denn für ein eigenartiges Getränk?“ fragte er.
„Das hat uns Hermes gerade vorbeigebracht“, sagte die Frau, und alle lachten und prosteten einander zu.








Was


... war das ?
Hat das wirklich stattgefunden?
Er kam zu sich.
Unglaublich!
Er hatte einen speziellen Conga-Rhythmus getrommelt, basierend auf einem cubanischen guaguanco, als er sich plötzlich auf jenem Dachboden wiederfand, wo er damals Schlagzeug spielte und sich seinerseits unversehens auf der Bühne befand, während er mit dieser Frau über ein vergangenes Abenteuer sprach.
Das war kein Traum gewesen.
Das war eine echte Erinnerung!
Das war vor vielen Jahren wirklich geschehen!
Aber wie konnte er dieses völlig außergewöhnliche Ereignis vergessen haben?!
Und die Frau ...
Ja, er hatte sie damals schon gekannt. Und zwar von irgendwelchen hochwichtigen, äußerst gefährlichen Begebenheiten her, die sich noch früher zugetragen hatten.
Und was hatte sie gemeint?
Was war das für eine Geschichte mit der ‚Nervenwaffe‘? Und wer waren diese ‚Anderen‘? Oder besser: sind ...?
Ihm lief es kalt über den Rücken, als er daran dachte, wie das Bild der Frau plötzlich vor ihm einfror.
Ganz früher, als diese mysteriöse Sache geschah, hatte er wenigstens noch ungefähr gewußt, wer diese ‚Anderen‘ waren. Warum wußte er es jetzt nicht mehr? - Und was war damals eigentlich überhaupt im Einzelnen geschehen? Er konnte sich nicht daran erinnern. - Eine doppelte Amnäsie!
Doch immerhin konnte er sich nun an das Konzert und die Wiederbegegnung mit der Frau erinnern. Und auch die früheren Ereignisse würden ihm schon wieder einfallen, da war er ganz zuversichtlich.
So meditierte er einige Tage intensiv, um die fehlenden Erinnerungen ans Tageslicht zu holen; doch wollte es ihm nicht gelingen.
‚Seltsam, seltsam!‘ überlegte er, daß er diese ganze Geschichte vergessen hatte, und daß sie ihm nicht wieder vollständig einfallen wollte. Und auch jetzt, wo er wußte, daß alles wirklich stattgefunden hatte, schien es, als wolle ihm immernoch irgendjemand einreden, es sei nur ein Traum gewesen.

Die erweiterte Wahrnehmung ist nur die eine Seite des erweiterten Bewußtseins; die andere Seite ist konsequenterweise (und unlösbar damit verbunden) die erweiterte Erinnerung, das wurde ihm nun klar.





 


- Fortsetzung folgt -