Die große Verschwörung


1. Teil:   In Wahrstadt


Inhalt :

Ankunft

In der Zentrale

Willkommen in Wahrstadt

Die Kommune




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Ankunft


Eigentlich ist Byrd Musiker. Aber natürlich wußte er längst, daß man heute im Zeitalter der Automaten und Computer mit handgemachter Musik nicht mehr durchkam. Denn was nicht aus der Maschine stammte, war nicht gefragt und existierte somit nicht - wie auch immer ...
Er hatte daher beschlossen, etwas Sinnvolles zu lernen und ging nun nach Wahrstadt, wo, wie er gehört hatte, es eine Akademie der Magischen Künste geben sollte. Hier wollte er sich einschreiben und die Magie studieren.

Es war ein sonniger, warmer Herbstabend, als Byrd in seinem Döschewo über die Waldberge kam und vor Wahrstadts Toren eintraf. Im Radio lief „Brand New Start“ von John Mayall, leicht und groovy.
Wahrstadt war eine mittelgroße Kleinstadt, die im Herzen des Landes in einem Tal zwischen den Bergen versteckt lag. Beiderseits eines gewundenen Flüßchens, dem Nahl, breitete es sich über die Auen und Hänge aus, und um den größten Berg herum, wo hoch oben eine mächtige mittelalterliche Burg trohnte. Die Gassen der Altstadt darunter waren eng, die Fachwerkhäuser verwinkelt und die ganze Atmosphäre gemütlich und geheimnisvoll zugleich. Und alles wirkte irgendwie zeitlos. Er ahnte noch nicht, daß er an diesem Ort die längste Zeit seines Lebens verbringen sollte.
Doch kam Byrd an diesem Abend nicht in die Stadt hinein. Die Polizei, die Feuerwehr und diverse private paramilitärische Organisationen probten irgendeinen Katastrophenalarm; man hatte eine Eingangssperre verhängt und alle Zufahrten und Wege in die Stadt geschlossen. Eine reine Routineübung, wie es hieß.
Also verbrachte Byrd die Nacht in einem Wäldchen außerhalb von Wahrstadt in seinem Döschewo. Er schlief tief und fest und wachte wiedermal an einem fremden Ort auf, wie so oft schon.

Die Morgenluft war frisch und klar, und er hatte Lust, statt zu frühstücken, einen kleinen Spaziergang zu machen. Er sah sich um: hohes Gebüsch, dahinter Wald - er hatte das sichere Gefühl, daß in der Nähe ein Bach floß.
Er stieg den Hang hinauf; auf der anderen Seite lag eine große Müllhalde.
Schon immer hatten Müllhalden und Schrottplätze in ihrer abenteuerlichen Anderszeitigkeit eine gewisse Faszination auf ihn ausgeübt, und so kletterte er auf die Abfallberge, in dieser seltsamen Stimmung zwischen Abscheu und entdeckerischer Neugier. Das meiste war kaum zu identifizieren, Plastiktüten, Pappkartons, Hausmüll, Farbeimer, stinkend und schmierig, dazwischen hier ein zerfledderter Lampenschirm, dort ein Fahrradgerippe; er paßte gehörig auf, daß er nicht ausrutschte.
Die eine oder andere Sache besah er sich näher, eine Negerpuppe in einem roten Kleid, aber ohne linkem Arm, einen hellblauen Seidenschal mit orangenen Ornamenten, eigentlich in gutem Zustand, ein Spielzeugauto, ein goldener Oldtimer, dem ein Rad fehlte, einige selbstgezeichnete Comix-Hefte über einen schwachsinnigen Geheimagenten.
Jedes Teil hatte seine eigene Geschichte und enthielt einen Teil des Lebens ihrer Besitzer. Nun wurden die ehemaligen Begleiter der Menschen, oft Inbegriff ihrer Wünsche und Sehnsüchte, nicht mehr gebraucht und sollten hier verrotten. Die alten Freunde. Und Zeugen. Insofern unterscheidet sich eine Müllhalde kaum von einem Friedhof.
Eine große Kiste fiel ihm auf. Er öffnete sie. Sie enthielt Endlos-Computerausdrucke voller Zahlenkolonnen.
‚Na, ob die wirklich hier liegen sollen?‘ fragte er sich, schloß die Kiste wieder und kehrte um.
Auf dem Rückweg zu seinem Auto stand mit einem Mal eine alte Frau vor ihm.
„Was haben Sie sich dort genommen?“ fragte sie streng.
„Nichts“, sagte Byrd und zeigte ihr frei seine offenen Hände; doch sie sah ihm nur in die Augen.
„Und was wollen Sie hier? Geld? Ruhm? Frauen?“
Ihr Blick schien sich in seine Augen zu bohren, als wollte sie den Grund seiner Seele umgraben. Dann sagte sie mit einer unglaublich tiefen Ruhe:
„Ich weiß, was Sie in Wahrstadt wollen. Auch wenn Sie es selbst noch nicht wissen. Ich rate Ihnen vorsichtig zu sein.“
Es klang nach mehr als nur nach einer Warnung, beinahe schon wie eine Drohung.
Er wollte sie gerade fragen, wie sie das meinte und was sie eigentlich von ihm wollte; doch er kam nicht dazu. Ohne eine Antwort oder auch nur eine Reaktion von ihm abzuwarten, hatte sie sich unvermittelt umgewandt und war genauso plötzlich zwischen den Müllbergen verschwunden, wie sie erschienen war.

Die Straßen nach Wahrstadt waren wieder frei, und Byrd konnte ungehindert in die Stadt fahren, wenn man von einigen Verkehrsstaus, unzähligen roten Ampeln und einer kilometerlangen Demonstration absah.








In der Zentrale


Kh8u schaltete den Bildschirm genau in dem Augenblick aus, als sich die Tür öffnete und der ,Onkel‘ den Raum betrat.
„Byrd ist soeben in Wahrstadt eingetroffen“, sagte Kh8u.
„Wunderbar“, lachte der ,Onkel‘ erleichtert, „dann kann das Spiel jetzt endlich beginnen.“
„Herzlichen Glückwunsch!“ Kh8us rotorangene Augen leuchteten anerkennend. „Ihre Wahl war erfolgreich.“
„Ach“, beschwichtigte der ,Onkel‘, „es ging ja fast von selbst, nachdem einer unserer Agenten Byrd beiläufig von Wahrstadt und der Magischen Akademie erzählt hatte.“
„Was gedenken Sie mit den drei anderen Kandidaten zu machen?“
„Sie sind bisher noch nicht angesprungen. Wir werden sie weiter beobachten. Aber ich glaube, daß Byrd unser Mann ist; jedenfalls wenn sich alles so weiterentwickelt, wie bisher.“
Sie wußten beide, daß es inzwischen nicht mehr darauf ankam, ob die auf der anderen Seite ihnen noch genug Zeit ließen.
Auf dem Gesicht des alten Mannes zeigten sich plötzlich ernste Furchen. „Ich hoffe nur, daß wir noch genug Zeit haben ...“
„Ja, es könnte knapp werden; aber jetzt haben wir wenigstens überhaupt eine Chance.“ Kh8u deutete mit der Hand hinter sich auf den dunklen Bildschirm und lächelte zuversichtlich.
Der ,Onkel‘ nickte nur.








Willkommen in Wahrstadt“


hatte auf dem Transparent über dem Ortseingang gestanden.
,Da hat sich wohl jemand einen Scherz geleistet‘, dachte Byrd; denn die Idylle, welche die Ansicht aus der Ferne bot, trügte gewaltig. Vor allem herrschte völlige Überbevölkerung und hoffnungsloses Verkehrschaos. Die Straßen waren mit Menschen und Autos verstopft. Ein einziger riesiger Dauerstau; nichts ging mehr, weder vorwärts, noch rückwärts.
Zuguterletzt geriet er auch noch in eine Verkehrskontrolle. Einer der Polizisten hielt eine Maschinenpistole im Anschlag. Byrd mußte aussteigen.
„Hände hoch! Beine breit! Drehen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand!“ Und während der eine ihn durchsuchte, spielte der andere nervös am Abzug.
„Was suchen Sie eigentlich?“ fragte Byrd.
„Maul halten! Wir stellen hier die Fragen!“
Aber stattdessen fischte ihm der Wachtmeister wortlos den Ausweis aus der Brusttasche.
„Den hätten Sie auch einfacher haben können“, meinte Byrd.
„Maul halten, hab‘ ich gesagt!“ kläffte der Ordnungshüter gefährlich, stapfte zum Streifenwagen und gab die Personalien über Funk durch. Es dauerte keine fünf Sekunden, und Byrd hörte deutlich die Antwort aus dem Lautsprecher plärren:
„Negativ. Wird noch nicht gesucht.“
Der Polizist gab ihm den Ausweis zurück und fuhr ihn an:
„Mach‘, daß du davonkommst! Und paß bloß auf!“
Doch weit kam er nicht. Denn der Verkehr war nun völlig zusammengebrochen. So stellte er sein Döschewo unten am Nahlufer in der Nähe des Universitätscampus ab und beschloß, alles weitere zu Fuß zu erledigen.

Byrd wollte sich als erstes die Stadt anschauen. Also machte er sich auf den Weg ins Zentrum. Aber auch zu Fuß kam er kaum durch das Gedränge. Um den Menschenströmen und den Blechfluten auszuweichen, kam er auf die Idee, einen kleinen Umweg seitlich durch ein stilleres Viertel zu nehmen.
Breite, schattige Alleen führten majestätisch an alten Villen inmitten prächtiger Parks vorbei. Die Weitläufigkeit und die Ruhe hier standen in völligem Kontrast zur übrigen Stadt, und es schien ihm, als befände er sich plötzlich gar nicht mehr im Wahrstadt, sondern an einem anderen Ort.
Irgendwann bemerkte er, daß er sich mit dem Weg wohl etwas verschätzt haben mußte. Er kam dem Zentrum keinen Deut näher. Die Allee wollte nicht enden, und von einer Abzweigung oder einer Nebenstraße keine Spur. Da beschloß er, doch lieber umzukehren. Wohl oder übel.
Auf einmal standen drei Halbstarke vor ihm. „Schönes Wetter heute, nicht?“ sagte einer von ihnen. Er trug eine verspiegelte Sonnenbrille.
„Was wollt ihr?“ fragte Byrd.
„Oh, ob du‘s glaubst oder nicht - wir wollen nichts von dir“, sagte der zweite mit einem matschigen Kaugummigrinsen.
„Wir wollen dir bloß die Fresse polieren“, meinte der dritte ganz lässig und schnippte einen Zigarettenstummel fort.
„Und wieso?“ fragte Byrd neugierig.
„Weil heute so schönes Wetter ist, hab‘ ich doch schon gesagt“, knurrte der erste. Sie begannen ihn zu umkreisen.
Byrd wußte genau, daß er keine Chance hatte, und lief los. Dauersprint. Er war ein guter Läufer, dennoch blieben die drei ihm dicht auf den Fersen.
Doch gerade als er überlegte, ob er einen Satz über die Hecke bewerkstelligen könnte, fuhr plötzlich aus einer Ausfahrt eine riesige goldene Luxuslimousine heraus - direkt vor seine Füße! Er landete polternd auf der Kühlerhaube. Die Bremsen quietschten, während er auf die Straße rollte.
Zum Glück blieb er unverletzt.
Sofort flog die Fahrertür auf, und ein Typ in schwarzen Samtklamotten und mit wallender blonder Mähne stieg aus, zog eine Knarre und ballerte dreimal in die Luft.
„Haut bloß ab, ihr Scheißkerle!“ brüllte er. Und schon hatten die drei Helden auf dem Absatz kehrt gemacht und waren Hals über Kopf getürmt.
„Hallo, ich bin King. Du bist neu in Wahrstadt und suchst bestimmt einen Job und eine Wohnung“, sagte der Blonde mit einem breiten, einnehmenden Lächeln, irgendwie zu breit, und zu einnehmend.

„Kann sein“, entgegnete Byrd reserviert.
„Ich hätte da was für dich. Ich suche einen Chauffeur und Gärtner. Freie Kost und Logie.“
„Klingt nicht schlecht. Und wie steht‘s mit der Bezahlung?“
„Auch noch Ansprüche, was?“ lachte King.
„Nein, danke. Hab‘ keinen Bock, mein Geld in der Freizeit verdienen zu müssen. Nichts für mich“, sagte Byrd und wandte sich ab um weiterzugehen.
„He, Mann, bist du bescheuert? Andere würden sich um den Job reißen!“
„Kein Interesse“, winkte Byrd ab.
„Das wirst du noch bereuen!“ rief der Blonde. Es klang beinahe schon wütend.
„Du willst mir doch nicht drohen?“
„Diese Frage zeigt, wie wenig du Wahrstadt und seine Bewohner kennst. Nein, das war eine Prophezeihung.“
„Und du glaubst bestimmt auch, daß es für dich keine Überraschungen mehr gibt“, versetzte Byrd, ohne eine Antwort zu erwarten, und ließ King stehen.

Die Innenstadt, welche hier „Oberstadt“ hieß, lag unmittelbar unterhalb der mächtigen Burg, die auf dem Hauptberg Wahrstadts hoch in den Himmel ragte und diesem seinen Namen gab: der Burgberg - er war, wie sich noch herausstellen sollte, die einzige physikalische Konstante dieses Städtchens, das auf den ersten Blick so bieder und verschlafen geschienen hatte.
In Wirklichkeit befand sich Wahrstadt im permanenten Ausnahmezustand. Die absolute Arbeitslosigkeit und die totale Wohnungsnot trieben die Menschen sprichwörtlich auf die Straße. Überall wurde protestiert und blockiert, an jeder Straßenecke und auf jeder Kreuzung, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der allgemeine Aufruhr war Normalität, wie der katastrophale Notstand Alltag war. Manche Nebenstraße war vollständig mit einer riesigen Zeltsiedlung belegt; und viele Menschen schliefen nachts einfach auf dem Bürgersteig.
Der Weg in die Oberstadt wurde immer beschwerlicher. Der Verkehr stand jetzt auch für die Fußgänger still. Alle naslang Demonstrationen und wieder Gegendemonstrationen, und überall Polizei, gelegentlich eine kleine Schlacht mit Molotow-Cocktails und Wasserwerfern, und am Rande ab und zu ein wenig Militär.
Byrd schlängelte sich an den Häuserwänden vorbei. Unten am Fuße des Burgberges, in der Straße der Einheit und deren Nebenstraßen lieferten sich arbeitslose Arbeiter und durchgefallene Studenten gerade eine Massenschlägerei. Die Polizei paßte auf, daß die Zivilbevölkerung dabei nicht zuviel Schaden erlitt.
Byrd nahm einen der unzähligen Seitenwege hinauf, durch verwinkelte Gäßchen hinter den alten Fachwerkhäusern, zwischen stillen, kleinen Gärten, in einem Labyrinth von Wegen, unter Efeu und dunklen Torbögen hindurch, und steile Stiegen und enge Wendeltreppen immerzu bergauf.
Und da stand er auf einmal auf einer Terrasse, mit Blick über die ganze Stadt und das Tal; seitlich vor ihm die berühmte Kirche mit dem schiefen Turmdach (als wolle es gleich herunterfallen), von dem die Legende geht, daß der Fehler ursprünglich nur ganz gering war, der Baumeister aber „aus eitel Stolz und Ehrenwürden sich dorten im Gestühl erhängto habe, woraufhinnigselbst jenes Gebäue, unter lautem Ächzen & Knirschen, noch mehr seitwärts geneigt wurden sei, bis zu seiner heutigen Stellation“ (historisches Zitat aus dem Werbeprospekt: „Urlaub in Wahrstadt“, herausgegeben vom hiesigen Verkehrsamt).
Er setzte sich vorn auf die Ballustrade und ließ die Beine hinabbaumeln. Seine Augen glitten über das Muster aus Hausdächern, und er versuchte sich zu orientieren: dort lag der Universitäts-Campus, dahinter die Philosophische Fakultät, genannt „Philfuck“, ein wuchtiger mehrtürmiger Glas- und Stahl-Bau, der ein eigenes kleines künstliches Gebirge unten im Tal an den Auen des Nahl bildete, hier der Bahnhof, dort der alte Dom gleich neben der Stadtautobahn, die ein paar Kilometer außerhalb flußauf- wie flußabwärts im Nichts endete - danach nur noch Landstraßen und Feldwege zwischen den Bergen und Wäldern. Es war die tiefste Provinz und wird es wohl immer bleiben.
Da - ratatäää! - bog plötzlich ein Demonstrationszug um die Ecke und steuerte auf die Terrasse zu. Byrd staunte; denn diesmal waren es Polizisten selbst, die hier protestierten.
Nicht viele, aber schon ein paar handvoll. Sie trugen Transparente mit Parolen wie: „Kein Bock mehr auf die Drecksarbeit!“, „Wir sind die Ärsche einer verfehlten Politik!“ und „Wir riskieren unseren Hals, und die Bosse kassieren!“ und wurden wie üblich angeführt, geleitet und abgeschlossen von jeweils einer Hundertschaft, in diesem Fall allerdings Spezial-Anti-Terror-Einheiten der Grenzpolizei, die ihre Kollegen mißtrauisch beäugten. (Nebenbei bemerkt für die Ortsunkundigen, obwohl Wahrstadt genau in der Mitte des Landes lag, war die damals noch variable Grenze bei maximaler Approximation und je nach Jahreszeit manchmal nur dreihundert Meter nahe, ja, unter extremen Umständen lediglich eine Hand breit entfernt.)
Die Terrasse war im Nu strategisch ausgebucht, und es wurde eng. Und da begannen auch schon - fast wie von selbst - die ersten Steine zu fliegen, jedoch nicht von den Demonstranten, sondern hinter den Büschen hervor und von den Dächern herab, wo Autonome den nichtsahnenden, braven Beamten aufgelauert hatten.
Byrd schlenderte gemütlich hinüber zur Wendeltreppe und - war verschwunden. Einzelne Blitze und Donner versuchten noch knapp, ihm nachzueilen. Doch er war schneller.
Er glaubte gerade, er wäre allen Fährnissen glücklich entkommen, als plötzlich ein Typ mit einem Jedermannsgesicht und in einem schäbigen dunkelgrünbraunen Anzug ihm den Weg versperrte.
„Entschuldigen Sie bitte“, hüstelte jener verlegen, ,,hätten Sie vielleicht eine Minute Zeit?“
„Wenn‘s unbedingt sein muß - worum dreht sich‘s denn?“
„Ich habe eben gesehen, wie Sie beinahe zum Opfer einer öffentlichen Demonstration geworden wären. Sie haben da diesmal ein ganz schönes Schwein gehabt, aber das nächste Mal könnte das schon ganz anders ausgehen.“
„Was wollen Sie?“ fragte Byrd ungeduldig.
„Ähm ..., Sie benötigen eine Versicherung gegen Demonstrationen, und ich als leitender Gebietsrepräsentant der Weltgeld Privatfinanz Holding & Co. habe hier ...“, er zog mit einem geübten Griff ein Formular aus seinem verwaschenen Jackett, „... hier ein interessantes, äußerst günstiges Angebot für Sie.“
„Danke, brauch‘ ich nicht“, sagte Byrd und wollte an dem anderen vorbei, doch der stellte sich ihm mit einem unscheinbaren halben Schritt erneut in den Weg.
„Sie können sich bei uns aber auch versichern, wenn Sie selbst demonstrieren wollen. Ist überhaupt nicht teuer.“
„Sie stecken wohl mit beiden Seiten unter einer Decke?“
„Ich hab‘ auch ganz normale Schuldversicherungen ...“
„Hören Sie ‘mal ...“
„Oder vielleicht brauchen Sie eine Hausratsversicherung ...“
„Ich habe keine Wohnung!“ Byrd wurde jetzt laut. „Und schon gar keinen Job, um Ihre Versicherung bezahlen zu können!“
„Auch gegen Arbeitslosigkeit hätte ich eine Versicherung für Sie. Obwohl dieser Fall ja bei Ihnen schon eingetreten ist ...“
„Mann - !“
„Aber umgekehrt: Wir können Sie auch gegen Arbeit versichern, falls Sie welche finden!“
„Halt‘s Maul! Ich brauch‘ diesen Nepp nicht! Ist das jetzt klar?“
Da fielen die Mundwinkel des leitenden Repräsentanten nach unten, und sein eben noch so selbstsicherer und zuvorkommender Gesichtsausdruck wandelte sich binnen einer Sekunde in reine Verzweiflung. Er brach zusammen und schluchzte:
„Und die hatten mir gesagt, das sei ein krisensicherer Job! Wieso will in diesen unsicheren Zeiten keiner eine Versicherung haben? Dafür sind sie doch da! Oder liegt es immer nur an mir? Verdammt! Was soll ich denn meiner Alten sagen?!“
Angesichts dieses Häufchens menschlichen Elends beruhigte sich Byrd wieder und half dem Ärmsten auf die Beine.
„Guter Mann, du mußt wirklich verstehen, daß ich momentan keine Versicherung benötige. Aber ich werde dich weiterempfehlen.“
„Ja, wirklich?“ Die Augen des anderen begannen zu glänzen.
„Natürlich. Du warst echt überzeugend. Und an dir liegt es ganz bestimmt nicht.“
„Oh, danke vielmals.“
Und nachdem also die Repräsentanz des Gebietsleiters vollständig wiederhergestellt war, durfte Byrd endlich an ihm vorbei.

Der Weg wurde etwas breiter und belebter, und Byrd kam schnell voran. Doch schon die nächste Kreuzung war wieder komplett verstopft. Eine große Menschenmenge drängte sich dicht an dicht um eine weißgewandete, ausgezehrte Gestalt mit langen, weißen, wehenden Haaren, welche auf einer Gemüsekiste stand und mit erhobener Stimme predigte:
„Und ich sage euch, meine Brüder und Schwestern, nach jahrelangem Fasten und tiefster Meditation hat Gott mir die Wahrheit offenbart.
So höret denn, daß wir alle die Arschkarte gezogen haben, und daß alles dem Untergang geweiht ist. Keiner kann seinem Schicksal entrinnen. Und deshalb braucht ihr auch keine Angst zu haben, ihr könnt den Bossen und den Bullen ruhig eine aufs Maul hauen, das wird nichts ändern. Euch kann nichts mehr geschehen. Seid frei! Nehmt euch die Freiheit, nehmt euch, was ihr wollt. Keiner entgeht seiner Bestimmung!“
Das Volk lauschte seinen Worten wie hypnotisiert, während Byrd sich zielstrebig seinen Weg durch die Menge bahnte. Obwohl er dabei gelegentlich auch seine Ellenbogen einsetzen mußte, nahm keiner irgendeine Notiz von ihm. Und über allem tönte der Prophet:
„Laßt euch von eurem wahren Willen nicht abhalten. Wacht auf, meine Brüder und Schwestern! Höret, was Gott mir offenbart hat: Eines Tages wird der Retter kommen. Er wird nach ganz oben in die allerhöchsten Ebenen vordringen, an den Mächtigen vorbei, wird den Widersacher besiegen und das Große Rad wieder zurückdrehen, oder vorwärts, je nachdem. Höret meine Worte!
Der Heiler der Welt wird kommen! Ich sehe ihn schon. Ja, meine Brüder und Schwestern, er weilt bereits unter uns. Er geht unbeirrbar seinen Weg, und nichts und niemand wird ihn von seinem Ziel abhalten.“
Byrd hatte es schließlich geschafft, die Menschenmasse gab ihn frei, und er hatte sich bald von diesem merkwürdigen Ort der wundersamen, rätselhaften und unglaublichen Offenbarungen entfernt.
Schon um die nächste Ecke kam ihm eine ganz komische Erscheinung entgegen: Ein Kerl steckte in einem schwarzen Karton, aus dem nur die Hände und die Füße herausragten und auf dem in großen goldenen Buchstaben stand:
„JOBS - GELD - GLÜCK!“ und darunter etwas kleiner: ,,Bezahlung sofort!!! Interessante, anspruchsvolle Tätigkeit für unabhängige Menschen von heute. Wir garantieren Ihnen: Sie werden uns so schnell nicht wieder verlassen!!!“ und dann in rosa Blockschrift: „Ihr Internationaler Weit+Breit-Trust“.
Eigentlich wollte Byrd ersteinmal eine Wohnung suchen; aber er war auch noch blank dazu, hatte vorhin Alex, dem Stadtindianer, seine letzte Haste-mal-‘ne-Mark spendiert, - hm, und ein guter Job wirkt ja auch wieder auf die Wohnung.
Byrd fragte also, was für eine Arbeit das wäre, und es tönte aus dem Karton:
„Was ganz Neuartiges. Du wirst angelernt. Ich weiß selbst nicht genau. Jedenfalls völlig außergewöhnliche Bezahlung. Und Wohnungen haben die auch.“
Und er gab Byrd eine Visitenkarte mit einer Adresse unten in Zwischenhausen, einem alten Stadtteil, tatsächlich eher ein eigenständiges Dorf unten zwischen den drei Armen des Nahl, der sich dort in den Niederungen des Tals, gleichzeitig dessen breitester Stelle, in ein Delta aufteilte, durchsetzt von tückischen Sümpfen, welche sogar die Einheimischen mieden.

Das angegebene Gelände lag unmittelbar am Nahl-Ufer; es schien frisch gerodet und trockengelegt und war eingezäunt und von uniformierten, bewaffneten Posten bewacht.
Am Tor wurde er einfach durchgewunken. Nach ein paar Metern stand vor einer Baracke ein Tisch am Wegesrand. Dahinter ein Uniformierter, rechts und links auch Uniformierte.
Byrd wurde schon einige Schritte vorher abgefangen und zu dem Tisch geführt. Dort lagen verschiedene Formulare ausgebreitet.
„Unterschreiben!“ befahl der Typ hinter dem Tisch.
‚Das geht aber flink hier!‘ staunte Byrd. Verdächtig flink.
„Ich, äh ...“, stammelte er auf der Suche nach einer Ausrede, „ich habe keine Brille, sie ist gerade in Reparatur. Sie müssen wissen, sie ist mir kaputtgegangen, und jetzt kann ich nichts mehr sehen ...“
„Maul halten!“ fuhr ihn der andere an. ,,Trotzdem arbeiten! Später unterschreiben!“
Klapp-zack! Die anderen salutierten. (Wem? - Byrd doch nicht etwa?!)
Er wurde einem Trupp zugeteilt; sie mußten endlos lange, brechendschwere T-Träger aus Gigantium-Stahl schleppen, quer über den weiten Sandplatz, wo auf der anderen Seite unter der Silhouette himmelhoher Kräne riesige Hallen entstanden.
„Die hätten durchaus mal einen der Kräne hierher stellen können“, meinte Byrd zu dem Kollegen neben sich. Doch dieser flüsterte nur, ohne ihn anzusehen:
„Behalt sowas bloß für dich!“
Es kursierte das Gerücht, daß der Internationale WEIT+BREIT-Trust hier das modernste Chemie-Paradies der Welt errichten wollte, und zwar zur ausschließlichen parazivilen Nutzung. Jedenfalls herrschte überall das absolute Dienstgeheimnis, bei Strafe! (Man munkelte, es gäbe sogar einen Exekutionsplatz.)
Die erste richtige Überraschung aber gab‘s, als ein Uniformierter herübergestelzt kam und den Leuten aus Byrds Trupp den Befehl gab: „Abmarsch zum Lohnfassen!“ und gleichzeitig Byrd, der zurückblieb und sich setzte, um auf die Rückkehr seiner Kollegen zu warten, anfuhr: „Weitermachen, du! Pause ist erst heute abend um acht!“ Und dabei schwang er eine Drahtpeitsche, an der vorn Stahlkugeln befestigt waren.
‚Aha, so ist das also‘, dachte Byrd und bemühte sich sofort voller Eifer, den T-Träger aufzuheben, der sich natürlich nicht einen Millimeter von der Stelle bewegte.
Der Uniformierte zog befriedigt ab.
Und da kamen auch schon die Kollegen wieder und wedelten fröhlich mit kleinen, bunten Zettelchen.
„Heute gab‘s ‘ne Sonderzulage“, erklärte einer.
„Was ist das?“ fragte Byrd und deutete auf die Zettelchen.
„Das ist Lagergeld“, sagte der andere.
„Was? Lagergeld? - Gibt‘s kein richtiges Geld?“ Byrd war verblüfft.
„Wozu? Du hast hier doch freie Kost und Logie. Und Anspruch auf deinen Urlaubstag hast du sowieso erst nach einem Jahr. Vorher kommst du hier ja gar nicht ‘raus“, klärte ihn einer seiner Kollegen auf.
„Wie? Ihr arbeitet für lau? Das kann nicht wahr sein!“
„Aber sicher doch“, sagte der andere und fragte überrascht: ,,Hast du denn deinen Arbeitsvertrag nicht durchgelesen, nachdem du unterschrieben hast? Es ist alles genau geregelt.“
„Ja, sind denn hier alle verrückt!?“
Byrd stapfte direkt los, hinüber zum Eingang; aber da kam schon wieder der Uniformierte von vorhin herübergelaufen, schwang seine Peitsche und wollte Byrd eins überziehen. Dieser tauchte jedoch ab, unterlief den Schlag, packte den anderen von hinten, warf ihn in den Staub und wickelte ihn blitzschnell in seine Peitsche ein. Hilflos zeternd blieb er liegen.
Als Byrd dann vor dem Ober-Sklaventreiber bei der Eingangsbaracke stand und gerade loslegen wollte, kam ein Trupp Uniformierter im Laufschritt herbeigeeilt. Hechelnd machte der Truppführer dem Empfangschef Meldung:
„Aufwiegler gestellt! Bitte um Befehl zur Exekution, Herr Leutnant!“
Die anderen hatten ihre Gewehre schon auf Byrd angelegt.
Der Leutnant winkte ab und sagte:
,,Paragraph zwei. Er ist ein Neuer.“
„Und ich gedenke auch, nicht länger Ihre großzügige Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen“, sagte Byrd.
„Aber, mein Herr“, versetzte der Leutnant mit einem sarkastischen Lächeln, „wir haben doch Ihren Arbeitsvertrag.“
„Den habe ich aber noch nicht unterschrieben“, erwiderte Byrd.
„Das macht nichts“, winkte der Leutnant ab, „das hat inzwischen Unteroffizier Eimer in meinem Auftrag für Sie getan.“ Und er zog die Formulare mit einem breiten grimmigen Grinsen aus der Schublade hervor, blätterte sie auf und - erstarrte.
„Uffz Eimer!“ brüllte er. „Vortreten!“
Derselbige trat unwillig vor, bleich und zitternd.
„Warum ist der Vertrag noch nicht unterschrieben?!“ tobte der Leutnant.
„Ich hatte noch keine Pause dafür“, winselte Eimer.
„Dreißig Peitschenhiebe!“ schmetterte der Offizier das Urteil in die Runde, gefährlich drohend.
Es herrschte Totenstille unter den Uniformierten.
„Sofort vollziehen!“ dröhnte es noch, und der Trupp, in ihrer Mitte besagter Uffz Eimer, völlig zusammengebrochen, entfernte sich wieder.
„Tja, mein Lieber“, murrte der Leutnant zu Byrd, „und was machen wir jetzt mit Ihnen? Ich würde vorschlagen, Sie unterschreiben sofort, damit wir keine weiteren Unannehmlicheiten bekommen.“
„Aber ich sagte doch vorhin schon“, erklärte Byrd, „daß ich keine Brille dabeihabe und nichts sehen kann.“
„Ja, das sagten Sie ...“
„Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob ich die Brille vom Optiker abholen kann. Sie sollte jetzt repariert sein. Wissen Sie, sie war mir heruntergefallen ...“
„Maul halten!“ befahl der Leutnant und dachte kurz nach. Dann sagte er:
„Gut. Ich werde jetzt stellvertretend für Sie ein Formular unterschreiben, in dem Sie sich verpflichten, sofort nach Ihrem Ausgang wieder zurückzukommen und unmittelbar darauf auch Ihren Arbeitsvertrag zu unterschreiben.“
„Ist mir recht.“
„Abtreten!“ befahl der Leutnant, klapp-zack! Die Wachposten salutierten, als Byrd durch das Tor hinaustrat.

Draußen regnete es, und es fanden gerade irgendwelche Sportkämpfe statt. Die Straßen waren für einen Wettlauf abgesperrt worden, und Byrd stand plötzlich mitten auf der Bahn. Die Läufer schwärmten um ihn herum und rauschten an ihm vorbei. Das Publikum tobte, Beifall, anspornende Zurufe, Pfiffe.
Etwas abseits saß ein Bettler vor einer Blechbüchse. Er trug lediglich einen Lendenschurz und fror offensichtlich.
‚Moment!‘ dachte Byrd. ,Den kenn‘ ich doch!‘
Es war King.
„He, King! Was ist denn mit dir passiert?“
„Ach, du?“ King erkannte ihn ebenfalls. ,,Ich hatte ein wenig Pech, weißt du. Wie das Leben so spielt, für den einen ist es hellichter Mittag, für den anderen zur selben Zeit finsterste Mitternacht, ha, ha.“
„Erzähl‘.“
„Ich hatte Besuch, erst ein paar Freunde und dann der Gerichtsvollzieher. Einige unbezahlte Rechnungen und so, du weißt schon, kann halt immer mal vorkommen.“
„Ich dachte, du hast nicht nur das große Geld, sondern auch noch den großen Durchblick dazu“, staunte Byrd.
„Hast du vielleicht ein paar Groschen für mich übrig?“
„Tut mir leid, ich bin wirklich total pleite.“
„Ist auch egal ...“
Jemand zupfte an Byrds Ärmel. Er drehte sich um.
Da stand Lark vor ihm, ein entfernter Bekannter aus vergangenen Zeiten. Er hatte einst in Dundells und Zapoks Landkommune bei Wüstenhagen gewohnt, wo er Byrd seine Blues-Raritäten vorspielte und ihn die Musiker raten ließ.
„Hallo, Byrd, du hier in Wahrstadt?“
„Hallo, Lark. Ja, ich bin sozusagen ganz frisch eingeflogen.“
„Oh, da suchst du bestimmt eine Wohnung? Das wird nicht einfach sein.“ Und er bot Byrd an, vorübergehend bei ihm zu schlafen, bis er etwas gefunden hätte.
Lark bewohnte eine kleine Mansardenbude in einer alten Patriarchen-Villa im Südviertel.
„Das Haus gehört der Wahrstädter Unabhängigen Bürgerwehr, Abteilung Süd“, sagte Lark, als sie die Treppe hinaufstiegen. Überall im Flur und im Treppenhaus lagen dutzende leerer Bierfässer.
„Was ist das? Bürgerwehr?“ fragt Byrd.
„Das ist so‘ne Art selbsternannte Miliz, eine halboffizielle Notfall-Guerilla“, erkärte Lark. „Ein ziemlich rechter Verein. Sie werben in der Öffentlichkeit um Anhänger; aber der Trend ist hier schon seit Jahren voll auf unpolitisch, nur ‘n paar Studis sind noch richtig links, so daß auch die Rechten Nachwuchsschwierigkeiten haben. Jetzt versuchen sie über die Wohnungsnot an Leute ‘ranzukommen, indem sie billige Buden anbieten. So bin ich auch an sie herangekommen.“
„Du?“ fragte Byrd erstaunt.
„Ja, klar, lachte er. „Ich bin doch Pragmatiker. Sie umzirzen mich, sind sehr zuvorkommend und höflich. Erwarten täglich meine Beitrittserklärung.
Aber ich, ähm, habe mich noch nicht entschieden.“
Das Zimmerchen war winzig; aber gemütlich eingerichtet, überall Pflanzen, wie in einem Gewächshaus, mit ultra-violettem Licht. Lark bot Byrd ein Bier an, dann fragte er:
„Und was treibt dich hierher? - Bist wohl schon lange nicht mehr mit Aenice zusammen?“
„Ich werd‘ mich an der magischen Akademie einschreiben und auch versuchen, ‘ne gute Band aufzuziehen.“
„Magische Akademie? Noch nie gehört. Aber ‘ne gute Musikszene, die gibt‘s hier in der Tat. Überhaupt, du glaubst gar nicht, was hier los ist, hier geht‘s drüber und drunter. Mir ist das zuviel, und ich werd‘ wohl bald nach Groß-Rebnil ziehen.“

‚Groß-Rebnil? Die Hölle, Babylon-City soll ruhiger sein als Wahrstadt?‘ dachte Byrd. ‚Na, das kann ja was werden ...‘
Sie standen oben am Fenster, während unten unter knallenden Feuerwerkskörpern und buntem Konfetti ein Zug vermummter Demonstranten, geleitet von dem üblichen polizeilichen Troß mit Blaulicht, vorbeilärmte.
„Ja“, sagte Byrd, ,,scheint hier wohl ständig kurz vor dem Bürgerkrieg.“
„Vor? - Aber nee, da unten das sind gerade ‘mal keine Demonstranten, sondern bloß der lokale Karnevalsverein. Die Polizei ist nur dabei um zu verhindern, daß irgendwelche Politischen sie verprügeln.“
Sie setzten sich und tranken noch ein Bier. Und Byrd fragte nochmal nach der Bürgerwehr; denn hier schien er sich ja mitten im Hornissennest zu befinden.
„Oh, nein“, winkte Lark ab, „sie sind zwar schwerbewaffnet und machen auch regelmäßig ihr Training, aber seit ich hier wohne, und das sind schon ein paar Monate, haben sie noch keinmal aktiv an irgendetwas teilgenommen, geschweige denn selbst inszeniert. Das einzige, was sie, außer Unmengen von Bier zu saufen, mit großem Eifer betreiben, sind ihre sogenannten ‚strategischen Analysen‘, wobei sie jedes Ereignis in der Stadt präzise verzeichnen und über alle Gruppen und Individuen genau Buch führen. Allerdings, soweit ich gesehen habe, ist ihre Datei dermaßen umfangreich, daß sie schon wieder wertlos ist; denn praktisch jeder Einwohner Wahrstadts befindet sich darin. In ihren Augen ist jeder ein potentieller Feind, der nicht zu ihnen gehört.“
Da klopfte es an der Tür und ein ganz seltsamer Typ mit kahlgeschorenem Kopf und in einer Lederuniform trat ein.
„Lark, wenn du jemanden bei dir wohnen läßt, das ist doch klar, dann zahlst du auch die doppelte Miete. Okay? Und außerdem: wann willst du endlich beitreten? Der Stab wird langsam ungeduldig“, bellte er zurückhaltend.
„Aber, Herrmann, das ist ein Freund von mir; er ist nur zu Besuch“, beschwichtigte Lark den anderen.
Der versetzte nur: „Also, du weißt Bescheid“, salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder.
„Tja, tut mir leid, Byrd“, sagte Lark bedröppelt, ,,du hast‘s gehört, meine Aktien fallen. Du wirst nur ein paar Tage bleiben können.“
Da ging die Tür erneut auf. Diesmal stand ein anderer Typ, aber ebenso kahlgeschoren und in der gleichen Uniform da. Er sprach Byrd direkt an:
„Ich bin Waltherr. Bist neu hier, was? Komm nachher mit auf unseren Gemütlichen Abend, draußen im Clubhaus. Also, bis dann!“ und ebenfalls wieder salut, kehrt und ‘raus.
Sie tranken noch ein Bier, hörten dazu „Warm Dust“, und Lark erzählte ein wenig von sich und von Wahrstadt. Und Byrd überlegte, daß er wohl doch ‘mal mit ins Clubhaus gehen würde, um sich das anzugucken, was dort so lief. Just for fun.

Bald wurde er von einer Art Delegation abgeholt. (Lark hatte ihn schon vorgewarnt, das machen sie immer bei neuen Aspiranten.) Sie fuhren mit dem Jeep aus Wahrstadt hinaus in die Bergwälder, über unzählige Landstraßen und Waldwege. Byrd hatte schnell die Orientierung verloren.
Schließlich hielten sie vor einem hoch mit Stacheldraht umzäunten Gelände, im dichtesten Wald.
Ihm wurden die Augen verbunden.
„Du mußt verstehen, du bist kein Eingeweihter“, erklärte ihm Waltherr freundlich.
Dann führte man ihn auf einem befestigten Weg voran. Einmal links und einmal rechts, und schon waren sie da. Man nahm ihm die Augenbinde wieder ab.

Sie standen in einem Karree von hohen Erdwällen, in der Mitte ein Mast mit der Wahrstädter Flagge, an den Seiten jeweils etwa ein Dutzend Leute Spalier, alle in Lederuniformen. Einer trat hervor, salutierte zackig und meldete:
„Gruß, Bürger! Unser Rudelführer Freiherr von Meier wird jetzt eine Beförderung verkünden. Anschließend gibt‘s ein Ehrenschießen.
Aaach-tung!“
Alle standen stramm, und der Rudelführer trat hervor und übernahm des Wort:
„Gruß, Bürger! Ich habe heute einen ehrenvollen Anlaß, hier unter euch zu sein. Es gibt eine Beförderung zu verkünden. Aaach-tung!“
Alle standen noch strammer, und der Rudelführer fuhr fort:
„Bürger Herrmann, vortreten!
Der Zentral-Stab ernennt dich hiermit zum Oberpimpf!“
Herrmann trat hervor, erhielt einen Orden angesteckt und mußte einen Eid auf die Wahrstädter Flagge schwören.
Dann wurde Freibier ausgeteilt und das Ehrenschießen abgehalten. Byrd stand etwas abseits und begann sich zu langweilen.
Da kam Waltherr herüber, stieß mit ihm an und fragte:
„Willst du nicht mitschießen?“
„Ach, lieber nicht“, bedankte sich Byrd.
„Du mußt aber. Bei einem Ehrenschießen muß jeder männliche Anwesende wenigstens einen scharfen Schuß abgeben“, rezitierte Waltherr und schleifte Byrd hinüber zum Schießstand. Hier herrschte lockere Stimmung, man prostete sich allseits zu, und jeder Schuß wurde be-trunken und dabei fachmännisch kommentiert.
Man drückte Byrd ein Bier und ein Gewehr in die Hand und klopfte ihm auf die Schulter.
„Aber nicht uns erschießen!“
Ausgelassenes Gelächter.
Byrd legte an, zielte kurz und oberflächlich und schoß.
Es brauchte eine kleine Weile, bis der Treffer verifiziert werden konnte, denn das Loch saß so präzise in der Mitte der Scheibe, daß man es zuerst für vorgestanzt hielt. Aber der eigens schnell und unbürokratisch einberufene Schützenrat befand, daß es sich um Byrds Treffer handelte, was mit einem lautstarken Beifall allerseits akzeptiert wurde. Byrd staunte selber am allermeisten.
„Du bist Tagesbester“, sagte Waltherr begeistert zu ihm und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. ,,Damit ist das Ehrenschießen beendet. Du kannst allerdings die Ehrung nicht empfangen, da du noch nicht eingeweiht bist“, fügte er hinzu.
Den Orden erhielt als Zweitbester wiederum Herrmann - mit stolz geschwellter Brust - angesteckt; es war ein großer Tag für ihn.
Anschließend begab man sich ins ,,Casino“, einer flachen Baracke, welche innen zu einer Kneipe ausgebaut war. An den Wänden hingen lauter Wimpel und Fahnen, Fotos von den Mitgliedern, auch vergilbte, historische, und in einer Vitrine standen diverse Pokale und sonstige Reliquien.
Hinter dem Tresen aber - und da war Byrd wirklich überrascht, denn damit hatte er hier überhaupt nicht gerechnet - bedienten zwei bildschöne junge Frauen die Gesellschaft. Byrd setzte sich auf einen Barhocker (Waltherr wich nicht von seiner Seite) und bat um die Karte.
Die eine Frau, eine Brünette mit tiefschwarzen Augen und einem noch tieferen Dekollete begann sofort ein Gespräch mit ihm.
„Du bist neu? Schon eingeweiht?“ fragte sie, in einem erotischen Alt und ziemlich doppeldeutig.
„Nein, noch nicht eingeweiht. Aber wahrscheinlich schon eingeweiht genug“, antwortete er genauso unbestimmt.
„Dann muß ich dir ja einen ausgeben“, versetzte die Brünette. „Wie hättest du‘s denn gerne? Wodka-Soda oder Klarer ...?“
„Oh, gib mir bitte nur die Soda“, bremste Byrd sie dezent ab.
Das Rudel zechte inzwischen wild drauflos. Der Freiherr stieß mit jedem an, und es schien, daß er, nachdem er schon nicht der beste Schütze war, allen beweisen müßte, wenigstens der größte Trinker zu sein; er stürtzte jedesmal sein Glas auf „ex“ hinunter.
Waltherr, in der Vermutung, daß er hier bei Byrd vorerst nur störte, hatte sich seinen Kumpanen angeschlossen und fachsimpelte mit Herrmann über die neue Datenbank, die sie im Hauptquartier installieren wollten.
Da schob die Brünette Byrds Glas Soda hinüber und blickte ihm dabei verführerisch in die Augen. Um das Glas war ein rosa Schlips als Schleife gewickelt, und es sah aus wie ein Präsent.
„Servierst du die Soda immer so?“ fragte er.
„Nein“, antwortete sie, knapp und offen.
„Und was ist dann das?“
„Das ist der Büstenhalter für das Glas“, lachte sie. „Weißt du, es hat sooo schwere Brüste.“ Und sie machte die entsprechende Geste an ihrer eigenen üppigen Figur.
„Ich finde, der Knoten ist schief gebunden“, meinte er.
„Knoten?“
„Nein, sowas brauchen wir nicht.“
Er löste die Schleife und gab ihr den Schlips zurück. Es ist nicht überliefert, welcher Teufel Byrd damals ritt, doch mußte er hinzufügen:
„Und außerdem glaube ich, du hast ihn viel nötiger.“
Er hatte eher eine Ohrfeige erwartet, als das was nun folgte; denn - schwupp! - hatte sie ihre Bluse ausgezogen, reckte ihm ihre beiden prallen Brüste entgegen und schnurrte:
„Natürlich brauch‘ ich den BH viel nötiger als dieses dumme Glas“, und hatte sich den Schlips über ihre Brustwarzen gelegt und hielt die beiden Enden hinter ihrem Rücken fest.
„Könntest du mir helfen, ihn zuzumachen?“ lachte sie ihn an.
Eigentlich hätte er lieber „nein“ gesagt; jedoch strahlte sie eine seltsame, verlockende Art der Herrschaft aus, die ihn leichtsinnig stimmte.
„Aber selbstverständlich“, versetzte Byrd und verknotete die beiden Enden auf ihrem Rücken, aber ohne ihre Haut auch nur einen Bruchteil einer Sekunde zu berühren. Dann reichte er ihr ihre Bluse und fragte sie distanziert:
„Sag ‘mal, wie komme ich denn am schnellsten wieder in die Stadt?“
„Du kannst mit mir fahren; ich hab‘ jetzt so wieso Dienstschluß.“
Das Rudel hatte von alldem nichts zur Kenntnis genommen. Man war zu sehr mit dem Abrauchen eines Joints beschäftigt, den Waltherr als Attraktion des Tages gebaut hatte.
Byrd verabschiedete sich kurz von den Jungs, und Waltherr rief ihm nach:
„Wir sehen uns heute abend bei Lark!“
„Ja, vielleicht“, antwortete Byrd.
Draußen überraschte ihn die Brünette aufs Neue, indem sie ihm plötzlich um den Hals fiel. Aber noch bevor er sich - natürlich nicht zu unsanft - befreien konnte, hatte sie ihn schon geküßt. Sie fuhr sich mit der der Zunge über die Lippen und schmeckte. Dann sagte sie:
„Ja, du bist sauber.“
Hatte er sich eben noch gewundert, wie extra-ordinär sie sich verhielt, so wurde ihm nun schlagartig klar, daß sie nur eine armselige Nutte war, die hier bei den Männern der Bürgerwehr ihren Bereitschaftsdienst leistete.
Als sie dann an ihrem Auto ankamen, einem älteren Zermedes-Cabrio, sah er auf dem Rücksitz in einer Wiege ein blondes, etwa ein Jahr altes Kind liegen, das still schlief.
Unterwegs schwärmte sie: „Du wärst genau der richtige Vater von dem Kleinen. Ich würde auch für uns sorgen.“
Byrd schwieg lieber.
Bald darauf fuhren sie in Wahrstadt ein. Gleich nach der ersten Demonstration bog sie links ab und hielt vor der Polizeistation.
„Was willst du hier denn?“ fragte er.
„Ich bringe jedesmal vorher mein Kind auf die Polizei. Das ist eine Abmachung mit dem Familienamt.“
Da sagte Byrd: ,,Du, mir fällt gerade ein, daß ich einen wichtigen Termin habe. Ich ruf‘ dich später eventuell an.
- Danke und tschüß.“
Und er stieg aus.
„Aber du hast doch gar nicht meine Nummer“, rief sie noch hinterher.
Doch er war schon fort.

Es sah also so aus, als ob hier alle völlig durchgeknallt wären, restlos. Sprichwörtlicher Massenwahn, der jederzeit in allgemeine Panik umschlagen konnte, wo letztlich jeder nur noch Amok lief.
Restlos alle?
Als er um die Ecke bog, befand er sich plötzlich mitten auf einem orientalischen Bazar, dichtgedrängt wuselten die Leute durcheinander. Genau vor ihm stand ein Mann unbestimmbaren Alters, dessen hellblaue Augen Byrd sofort auffielen. Hatte er jemals schon jemanden mit so klaren Augen gesehen?
Der Mann hielt ein kleines Päckchen in den Händen und sprach ihn direkt an:
„Ich empfehle Ihnen das De-Hypno-Set, bestehend aus einer kleinen Broschüre ‚Die Wahrheit über den derzeitigen Zustand der Welt‘, einer Musik-Cassette bei deren Anhören die beiden Gehirnhälften voneinander getrennt und separat aktiviert werden, und einer Phiole mit einem Mittel zum endgültigen Erwachen aus dem alltäglichen Schlaf.“ Bei letzterem handelte es sich um eine wundersam leuchtende Substanz, die auf Byrd den Eindruck machte, daß sie schon äußerst wirksam sein könnte, nur - wie?
Obwohl er absolut kein Interesse an dem De-Hypno-Set und vor allem an seinen obskuren Wirkungen hatte, fragte er:
„Und was soll das kosten?“
„Das ist gratis.“
Plötzlich heulten Sirenen auf, hunderte Uniformierte des Katastrophenschutzes erschienen mit ihren Jeeps, Lastwagen, Bergepanzern und Kränen wie aus dem Nichts und schwärmten aus, und der ganze Platz war im Nu abgeriegelt. Der Mann mit den hellblauen Augen war genauso plötzlich verschwunden. Es schien, als ob er vor Byrds Augen durchsichtig geworden wäre und sich einfach aufgelöst hätte.
Aus einem Megaphon dröhnte eine Stimme:
„Dies ist keine Übung! Rühren Sie sich nicht von der Stelle! Warten Sie die Anweisungen des Personals ab! Dies ist keine Übung!“
Ein Trupp Uniformierte kam auf Byrd zu und fragte mit vorgehaltenen Maschinenpistolen:
„Wo ist Ihr Komplize?“
„Wie bitte? Was meinen Sie?“
Doch da nahte ein Offizier und sagte:
„Der hat damit nichts zu tun, laßt ihn laufen.“ Und zu Byrd: „Mach dich davon!“
Das ließ er sich unter diesen Umständen nicht zweimal sagen, denn es war absolut sicher, daß dies keine normalen Katastrophenschutzeinheiten waren. Und überhaupt - welche Katastrophe eigentlich? Es war nichts geschehen, das wie eine Katastrophe aussah.
Es machte alles viel eher den Eindruck einer ganz klassischen Razzia, wenn auch etwas überdimensioniert, und - das wurde ihm mit einem Mal klar - bei der man es offenbar auf den Mann mit den hellblauen Augen abgesehen hatte. Doch dieser war ihnen wohl entwischt.
Genauso schnell wie sie erschienen waren, verschwanden die Uniformierten mit ihren Fahrzeugen, Geräten und Maschinen wieder, und das Volk nahm ganz selbstverständlich seine Beschäftigungen wieder auf, als ob nichts geschehen wäre. Byrd kam das alles unheimlich vor. Und er hatte das sichere Gefühl, daß er sich für einen Augenblick in akuter Gefahr befunden hatte. In größter Gefahr. Falls er das De-Hypno-Set des Unbekannten angenommen hätte.
‚Schade‘, dachte er. Eigentlich hätte es ihn schon interessiert. Doch - zu spät.
Aber egal, er war schon wieder irgendwelchen Fährnissen entwichen. Vielleicht sollte er in Zukunft ein wenig besser aufpassen. Es schienen tausend Krallen nach ihm zu fassen. Allerdings hatte er auch keine Mühe, sich ihnen jedesmal zu entziehen. Es war wie ein Spiel. Und er ahnte absolut nicht, was ihn noch erwartete.
Ja, nicht mehr als ein Spiel. Zumindestens für ihn.
Denn als er sich - die Sonne begann gerade unterzugehen - durch die nächste Menschenansammlung kämpfte, hunderte sensationsgierige Gaffer, die sich mit offenen Mäulern um eine blutige Leiche drängelten, und ein wenig abseits einige desinteressierte Polizisten, da traf er zum dritten mal auf King.
- Er war der Tote, irgendjemand hatte ihn einfach erschlagen.
Die Hunde zerrten an dem Kadaver, und die Masse begann sich aufzulösen.
Byrd wurde übel.








Die Kommune


Abends machte Byrd einen Streifzug durch die Oberstadt.
Die engen Gassen mit ihren hutzeligen Fachwerkhäusern hatten etwas Unwirkliches, wie eine Theaterkulisse. Viel Volk war unterwegs, um sich zu amüsieren. Doch hier gab es nur lauter langweilige Studenten- und Touristenkneipen. Die einzige Ausnahme war das „Koma“, eine abgerissene, schäbige Freakkneipe, wo in ungezwungener Atmosphäre fetzige Rockmusik lief.
Unten am Fuße des Burgberges fand er dann das „Nitty Gritty“, eine finstere, verwinkelte Hippie-Discothek, die aus fernen Tagen übriggeblieben war und wie ein historisches Museum wirkte - aber in Action!
Die Zeit schien auf einen Schlag mit Volldampf rückwärts zu laufen. Schon draußen hunderte Blumenkinder, und drinnen noch mal tausende. Alle Räume inklusive die Tanzfläche waren hoffnungslos überfüllt, und Keie, der Kellner, mußte sich unermüdlich immer wieder zwischen den Gästen durchkämpfen, und da er eine Nummer kleiner war als der Durchschnitt, sah man nur sein stets bis zum Rand gefülltes Tablett über den Köpfen daherschweben. Überall hingen bunte Tücher von der Decke herab und alte Teppiche an den Wänden, dazwischen knallige Psychedelic-Poster; direkt gegenüber dem Eingang ein Jugendstilgemälde, ein wenig kitschig: Jesus, die Hände vorm Gesicht zum Gebet gefaltet; jemand hatte das Werk nachträglich vollendet und ihm ein dickes Chillum zwischen die Finger gemalt. Die Musik war hart und laut und gut, und über der Tanzfläche blitzte ein grell flackerndes ultraviolettes Stroboskop.
Als Byrd eintrat, lief gerade „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin.
Natürlich tummelten sich auch hier, wie üblich, unter den harmlosen Kiffern viele Alkies und Junkies; dennoch beherrschten die Hippies mit ihrer fröhlichen und friedlichen Ausgelassenheit unangefochten die Szene. Ganz abgesehen von den Marihuanaschwaden, die allerorten herumschwebten und für eine allgemeine gelassene Zufriedenheit sorgten.

Später, nachdem die meisten Gäste gegangen waren und Ningo, der Wirt, die Tür abgeschlossen und seine beste Flasche Whiskey auf den Tisch gestellt hatte, kreiste eine riesige arabische Wasserpfeife, und einer der Jungs setzte sich ans Klavier und spielte Boogie Woogie. Byrd holte seine Mundharmonika heraus und spielte mit. Es war eine heiße Session, und es wurde eine noch heißere Party, die die ganze Nacht dauerte.
Irgendwann kam Byrd mit dem Pianisten, er hieß Mesh, ins Gespräch, und als Byrd sagte, daß er eine Wohnung suchte, lud Mesh ihn in seine Kommune in Oberfeld ein.
Und so fuhren sie im Morgengrauen aus Wahrstadt hinaus in die umliegenden waldigen Berge.

Die Kommune bewohnte einen alten Gutshof unweit des Dörfchens Oberfeld, märchenhaft schön in einem Tal gelegen, inmitten üppiger grüner Auen, durch die sich ein kleiner Fluß schlängelte.
Das Gehöft bestand aus dem vierstöckigen Herrenhaus, zu dessen Eingang zwischen zwei mächtigen Säulen eine breite Treppe hinaufführte, dem flachen Gesindehaus, zwei Stallungen und einem Gerätehaus, und, etwas abseits, einer alten Mühle. Ferner gehörten zu dem Anwesen noch ein großer Garten und diverse Ländereien.
Byrd schlief diese Nacht in der alten Mühle am Flüßchen. Das Rieseln des Wassers geleitete ihn durch den Schlaf und hatte eine äußerst wohltuende, zutiefst entspannende Wirkung auf ihn, so daß er mit einer bisher ungekannten Frische aufwachte, als hätte er zum erstenmal in seinem Leben wirklich richtig ausgeschlafen.
Beim Frühstück, zusammen mit den anderen, fragte Mesh ihn:
„Und? Wie gefällt‘s dir hier bei uns?“
„Was ich bisher gesehen habe - sehr schön.“
„Wir haben noch Platz, kannst dich ja ‘mal umschauen.“

Byrd blieb den ganzen Tag auf dem Gutshof und lernte nach und nach die Bewohner kennen:
Mesh, den wir ja schon als Pianisten gehört haben, studierte Politik und Theologie und arbeitete nebenbei als freier Journalist für die „Wahrheit“, ein linkes Stadtmagazin, welches sich mit Werbung für die lokalen Geschäfte und Unternehmen finanzierte. Mesh war übrigens auch ein hervorragender Koch. Dann war da Phil, ein ehemaliger Soldat, der es bis zum Leutnant gebracht hatte, bevor er merkte, was gespielt wurde und von heute auf morgen den Dienst an der Waffe verweigerte. Er betrieb mit einem Kleintransporter eine „Spedition für Umzüge und Entrümpelungen“, aus welch letzteren sich ein Handel mit gebrauchten und antiken Möbeln entwickelt hatte, an dem vor allem Lui teilhatte, der den Sperrmüll in seiner Schreinerei kunstvoll wieder aufmöbelte. Lui war einer der ruhigesten und besonnensten Menschen, die Byrd je erlebt hatte. Er war offenbar schon seit Jahren mit Leni zusammen, einem ebenfalls äußerst stillem Gemüt, die aber ganz plötzlich urwitzig albern sein konnte. Sie kümmerte sich vor allem um den Gemüse- und den Obstgarten, zusammen mit Klara, welche ihrerseits noch alles Mögliche machte; sie strickte, kochte und malte und besaß ein Spinnrad und eine Töpferscheibe. Byrd fand sie ein wenig flatterhaft. Die nächste war Isie, die auch im Garten arbeitete; sie ging noch zur Schule und machte gerade ihr Abitur. Nicht zu vegessen aber war Tamara, eine sehr starke junge Frau, die überall mit zupackte, wo es nötig war; sie versorgte ein halbes Dutzend Milchkühe und eine kleine Schafherde; sie hatte ein sonniges und offenes Gemüt und strahlte immer gute Laune aus. Sie war liiert mit Roland, einem kräftigen, etwas ungehobelten, aber fröhlichen Gesellen, dessen Leidenschaft Motorradfahren war und der eine Auto- und Motorradwerkstatt betrieb. Außerdem versorgte er den Hühnerhof, und der Gockel, „der einzige, der mich versteht“, wie er betonte, saß ständig auf seiner Schulter. Aber natürlich war seine CNX 1001 sein bester Freund, genauer seine beste Freundin, die er abgöttisch verehrte und hegte und pflegte wie ein Baby; sie wurde durchschnittlich einmal die Woche komplett zerlegt, gereinigt, geölt und wieder zusammengebaut. Dann waren jedesmal alle Einzelteile über den ganzen Gutshof verteilt, in der Küche, im Bad, auf dem Flur und draußen auf dem Hof - einfach überall. Und niemand durfte dann ein Teil auch nur berühren.
Kurz: Es war ein bunter Haufen von Individuen unterschiedlichster Natur, die den Gutshof bewohnten und bewirtschafteten. Jeder auf seine eigene liebenswürdige Weise ein wenig verschroben. Aber jeder achtete den anderen und ließ ihn sein, wie er wollte, und so harmonierte diese Kleinstgesellschaft ohne feste Regeln und ohne Authorität, vielmehr erlebte jeder täglich, wie sehr sie einander ergänzten und sich gegenseitig stärkten. Auf diese Weise hatten sie sich zum Beispiel wirtschaftlich weitestgehend unabhängig gemacht von den offiziellen staatlichen und industriellen Zwängen.

Am großen Abendbrottisch fragte Mesh:
„Na, Byrd, willste einziehen?“
„Was ‘ne Frage?! - Die Mühle ist doch frei, oder?“
„Bitte, sie gehört ab jetzt dir.“
Byrd konnte es kaum glauben.

So bezog er also die alte Mühle am Fluß. Das untere Geschoß, das ehemalige Mahlhaus mit seinem riesigen Holzräderwerk und den schweren Mühlsteinen, war ideal geeignet als Musikraum für Sessions; und im oberen Stock richtete er sich einen Wohn- und Schlafraum ein.

Die ganze Sache hatte natürlich doch einen kleinen Haken:
Es hatte sich unter den zahlreichen Freunden der Kommunemitglieder bald eine Art Tourismus entwickelt, da man den Gutshof als eine Insel des Friedens und der (relativen!) Ruhe kannte; hier konnte man liebe Leute besuchen, sich von seinen Alltagsnöten ablenken lassen, Musik hören, Tischtennis spielen, im Fluß schwimmen, oder Faulenzen und gar nichts tun.
So war eine Traube unterschiedlichster Besucher und Gäste herangewachsen, und wuchs weiter: Freaks jeder Coleur vom Hippie bis zum Punk, Linke, Autonome, Spontis und Nontis, Musiker und Maler, auch ein paar Intellektuelle dazwischen, und ab und zu ein Penner - immer war irgendjemand gerade zu Besuch, im Schnitt etwa drei bis fünf Leute, und wenn es der Teufel wollte, manchmal sogar zehn oder mehr, wofür nicht zuletzt die guten Köche der Kommune verantwortlich waren.
(Immerhin lag Byrds Mühle etwas abseits von allem.)
Nachdem aber einmal schließlich die Lage eskalierte und an einem scheißnormalen Dienstagabend sage und schreibe 22 (in Worten: zweiundzwanzig!) Leute am Abendbrottisch saßen und auf Bewirtung warteten, mußte der Notstandsrat tagen. Von nun an wurde beim Essen jedesmal ein großes Sparschwein mit einem freundlichen auffordernden Lächeln herumgereicht. Der Erfolg war verblüffend: Es kamen ab jetzt nur noch Gäste, die man auch wirklich mochte.
(Doch ich greife vor.)

Am Tag nach Byrds Einzug fand eines der berühmt-berüchtigten Hoffeste mit Live-Musik und Faßbier statt.
Es ging hoch her, hunderte von Menschen bevölkerten das Gelände, lauter fremde Gesichter, hier war keiner mehr zuhause - oder jeder, alles gehörte allen, Musik dröhnte von überallher, dicke Haschischwolken lagen in der Luft, das Bier floß in Strömen, und auf jedem freien Quadratzentimeter wurde getanzt.
Die Hauptattraktion des Abends war Emil Satan, der allseits gefürchtete Chef-Terrorist der pan-germanischen Spaßguerilla, von dem alle wußten, daß er nur inkognito anwesend war; denn er stand ganz oben auf der Fahndungsliste der Polizei, wegen angeblichen Mordes. „Hat sich wohl jemand totgelacht, wa‘ “, war sein Kommentar.
Er inszenierte um Mitternacht ein großes Happening: Eine Hofschlacht mit schnapsgefüllten Wasserpistolen, deren Ausgang schon von vornherein feststand; denn es würde keinen Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern geben. Die Aufsichtsrats- und Minister- und Direktorenposten und sonstigen Rollen in dem Underground-Politik-Spektakel wurden verteilt; dann gab Emil persönlich feierlich die Waffen aus, und los ging‘s. Was nun folgte, war ein gewaltiges Massaker, dem sich keiner entziehen konnte. - Die Teilnahme am anschließenden Standgericht unter Anwendung striktester Siegerjustiz hingegen war freiwillig, doch auch hier standen die Märtyrer Schlange. Es war eine Orgie der Erbarmungslosigkeit. Man exekutierte sich gegenseitig durch Schuß in den Mund oder ertränkte sich in einer randvoll mit Schnaps gefüllten Badewanne!
Ansonsten wurde in jedem Bett, in jedem Auto und hinter jedem Gebüsch gevögelt, was das Zeug hielt.
Und die Hymne des Abends war „Sex and Drugs and Rock‘n‘Roll“ vom lieben, alten Ian Drury.
Auf gut deutsch also Exzesse jeder Art, Anarchie und Subversion, die totale Attacke auf die Grundwerte der menschlichen Zivilisation, der Untergang des Abendlandes, ja, der ganzen Welt. Mit einem Wort:
Revolution!
- Und genau das war es, was die braven Dorfbewohner von der Kommune dachten, und man mied sie.
Die Kinder aber kamen gerne auf den Gutshof, hier gab es immer etwas interessantes zu gucken, und hier meckerten keine Eltern herum. Zuhause kriegten sie dann jedesmal welche hinter die Löffel, wenn herauskam, daß sie wieder „boi denne“ gewesen waren.






 


- Fortsetzung folgt -