NOVELLE










Wenn wir wüßten ...

Ein Zyklus phantastischer Geschichten zum Gruseln und Wundern


von Henry Random


- sämtliche Rechte: Verlag der anderen Seite / station23 -








INHALT:

Wenn ich gewußt hätte ...
Wenn du gewußt hättest ...

Wenn ihr wüßtet ...
 Wenn sie wüßten ...
Wenn er gewußt hätte ...
NEU   Wenn wir wüßten ...
NEU   Es weiß jetzt ...











Wenn ich gewußt hätte ...



... was sich ereignen würde, ja, mußte, unausweichlich - wenn ich es gewußt hätte, hätte ich etwas ändern können? Oder wollen?
Doch urteilt selbst:

Ich liebte Julia. Ich war fast wie von Sinnen, wenn ich nur an sie dachte, doch sie hielt mich hin, hatte nie Zeit, und je mehr ich sie umwarb, desto mehr wies sie mich ab. Schließlich ließ sie mir mitteilen, daß sie nun Walter zum Freund hatte und nicht weiter von mir bedrängt werden wollte. Ich kannte Walter flüchtig und war schwer enttäuscht.
Natürlich schrieb ich ihr; doch meine Briefe kamen ungeöffnet zurück, und sie selber ging nicht mehr ans Telefon. Ihre Mutter log jedesmal, sie sei nicht zuhause.
Es war zum Verzweifeln.
Stattdessen liebte mich Lydia. Sie machte mir schöne Augen, und wenn wir uns - zufällig? - trafen, versuchte sie immer wieder, mich zu irgendetwas einzuladen. Doch sie interessierte mich nicht, und ich fand sie bald ziemlich lästig.
„Laß mich endlich in Ruhe und - leb‘ wohl!“ sagte ich grob und ging. Betroffen blieb sie zurück.
Da lernte ich Doris kennen. - Sie war einfach phantastisch! Ich verliebte mich sofort in sie, im ersten Augenblick als ich sie sah. (Und sie war bei weitem nicht so schön wie Julia.) Es schien die große Liebe, und ihr erging es genauso. Ein Blick, ein gegenseitiges Einander-in-die-Augen-sehen, und wir waren ein Paar, von nun an unzertrennlich.
In diesen Tagen hörte ich von Dietmar, Lydias Bruder, zum ersten Mal das Gerücht über eine seltsame Krankheit, die sich in letzter Zeit rasant ausbreiten sollte:
Man munkelte von Blutleere, von Trance und aggressivem Verhalten, Leute wären verschwunden, spurlos, und unheimliche „dunkle Vögel“ würden nachts erscheinen.
Ich aber lachte: „Das sind doch alles Märchen!“ und verschwendete keinen weiteren Gedanken darüber; denn meine ganze Aufmerksamkeit galt damals nur Doris.
Irgendwann aber war dieses überwältigende Gefühl des ersten, frischen Verliebtseins, diese blinde Glückseligkeit, in einen normalen Alltag übergegangen, und bald hatten Doris und ich unseren ersten Streit. Der Anlaß war, wie wohl in den allermeisten solcher Fälle, unbedeutend, so daß auch nichts weiter dazu zu sagen ist, als daß wir uns schmollend trennten, jeder in der Überzeugung seiner Unschuld, erwartend daß der andere um Verzeihung bittend zurückkam; schmerzvoll, aber trotzig.
Wenige Tage danach traf ich Julias Freund Walter. Er war sichtlich verstört, seine Haltung drückte hilflose Wut aus, und sein Blick irrte unruhig umher, als erwartete er jeden Moment einen mörderischen Verfolger.
Ohne mir in die Augen zu sehen, sagte er heiser und abgehackt:
„Sie ist frei, Hansen. Gehen Sie nur zu ihr und überzeugen Sie sich selbst ...
Und versuchen sie Ihr Glück ... !“ Und schon war er wieder fort.
Im Nu loderte die alte Liebe wieder auf. Und hin- und hergerissen zwischen tiefer Sehnsucht, aber gleichzeitiger Ungewißheit, ob sie mich inzwischen auch liebte, beziehungsweise der Wahrscheinlichkeit, daß sie mich immer noch nicht liebte, machte ich mich auf den Weg zu ihr.
Unterwegs begegnete ich - ausgerechnet! - Doris. Ich wollte ihr ausweichen, doch sie kam geradewegs auf mich zu und sagte:
„Ich muß mit dir reden.“
Ich aber entgegnete nur knapp:
„Laß mich, Doris. Ich liebe Julia immernoch.
Verzeih mir; ich muß zu ihr.“
Da schossen ihr die Tränen in die Augen; dennoch blieb sie gefaßt und sagte leise:
„Ich hoffe, daß du keinen Fehler begehst.“
Ahnungsvoll?
Ich wünschte ihr ein kurzes „Ade!“ und ließ sie stehen.
Dann stand ich vor Julias Wohnung. Ihre Mutter öffnete die Tür. Sie war bleich und sah krank aus und sagte nur:
„Sie war schon seit Tagen nicht mehr zuhause, und ich glaube, sie wird auch nicht mehr wiederkommen.“
„Wissen Sie, wo sie ist?“ fragte ich.
„Nein; und ich will es auch nicht wissen.“
Und schon fiel die Tür ins Schloß.
‚Sonderbar‘, dachte ich. ‚Julia hat stets von ihrer Mutter wie von ihrer besten Freundin gesprochen. Und nun das - ?‘
Ich beschloß heimzugehen. Es wurde bereits dunkel; doch ich machte noch einen Umweg durch den Park. Ich mußte nachdenken; irgendetwas in mir wollte sich zu einem Gedanken formen, aber ich konnte es nicht greifen, es entzog sich immer wieder meiner Erkenntnis.
‚Julia - fort?‘ zweifelte ich. ‚Unmöglich!‘
Doch ihre Mutter hatte nicht gelogen. Und auch wie Walter gesagt hatte: „Sie ist frei“, wie er das Wort „frei“ betont hatte - irgendwie unheimlich.
So spazierte ich durch den Park, über ein beängstigendes Rätsel grübelnd, das ich nicht fassen konnte, welches aber mich gepackt hatte wie ein finsterer Dämon.
Da spürte ich plötzlich das sichere Gefühl der Gefahr. Unmittelbare Bedrohung! Es rauschte über mir, und vor meinen Augen verwandelte sich ein großer, dunkler Vogel in einen Menschen. Seine weitaufgerissenen Augen starrten mich eindringlich an, sein Mund öffnete sich, und lange, spitze Zähne blitzten im Mondlicht, während seine Hände nach mir krallten.
Instinktiv wandte ich meinen Blick ab und begann zu laufen, so schnell ich konnte. Es war nicht mehr weit bis zu meinem Haus. Über mir hörte ich es flattern und rauschen, Flügel schlugen an meinen Kopf, Krallen zerrten in meinen Haaren, und ich hielt schützend meine Arme über mich, während ich weiterrannte.
Bald war ich zuhause, stürmte in den Flur und schlug die Tür hinter mir zu.
Atemlos keuchend und zitternd dachte ich nur: ‚Was war das denn für ein Ungeheuer? Träume ich? Dieses Wesen, diese Verwandlung ... - das ist doch nicht wirklich, oder?!‘
Dann hörte ich draußen etwas davonflattern; trotzdem wagte ich nicht, die Tür zu öffnen und hinauszusehen.
Immernoch zitternd stieg ich die Treppe hinauf, und mein Wohnungsschlüssel wäre mir beinahe aus der Hand gefallen.
Oben angekommen erwartete mich die nächste Überraschung, diesmal allerdings genau das Gegenteil, wenngleich nicht weniger traumhaft: Julia stand vor meiner Wohnungstür! Und sie wartete offensichtlich auf mich!
„Hallo“, hauchte sie. „Ich störe hoffentlich nicht.“
Im Nu hatte ich den Alptraum zuvor vergessen.
„Natürlich nicht, Julia“, sagte ich. „Ähm ..., ich bin nur etwas überrascht. - Aber möchtest du nicht ‘reinkommen?“
„Ja, gerne.“
Kaum hatte ich die Tür geschlossen, sprudelte es aus mir hervor:
„Julia, ich liebe dich, ich bin verrückt nach dir ..., ich kann es gar nicht begreifen, daß du hier bist.
Ich ... ich will dich - jetzt!“ Und ich umarmte sie, und sie ließ mich und sagte ruhig:
„Ja, ich weiß. Deswegen bin ich ja hergekommen, um deine Träume wahr zu machen, und noch viel mehr, etwas das du bisher nicht einmal ahntest, wunderbarer als deine tiefsten Wünsche.“
Und sie sah mich mit großen Augen an. Eindringlich und irgendwie übermächtig. Jedenfalls fiel ich sofort in eine Art Rausch; ich hatte das Bedürfnis, mich ihr ganz hinzugeben, ich fühlte eine selbstvergessene Empfänglichkeit für ... sie, für ... alles - möge da kommen, was wolle. Wie gelähmt war ich, passiv, aber voller Erwartung, und ich wußte: jetzt kommt die Erfüllung.
Nun öffnete sie ihre schönen, vollen Lippen, und ich sah ihre langen, spitzen Zähne -
‚Moment! Solche Zähne habe ich doch bereits gesehen!‘ fuhr es mir durch den Sinn.
Mit einem Mal hatte ich fürchterliche Angst. Panik! Ich wußte ganz genau: Es ging um mein Leben. Instinktiv wollte ich mich wehren; doch es war zu spät. Julias durchdringender Blick hatte mich bewegungsunfähig gemacht.
Und schon fühlte ich heiß ihren Kuß an meinem Hals. Wohlige Glut durchströmte mich, bisher ungekannte Gefühle, Leichtigkeit ...
Ich lehnte an der Wand, reglos, konnte keinen Gedanken fassen, sondern beobachtete nur stumm, wie sie ihren roten Mund mit dem Ärmel abwischte.
Dann sagte sie: „Morgen komme ich wieder“, und fügte bestimmt hinzu: „Du wirst mich hier erwarten.“ Darauf ging sie ohne Gruß.
Langsam kam ich wieder zu mir, wankte benommen ins Bett und schlief fest und traumlos bis zum nächsten Abend.

Das Klingeln an der Wohnungstür weckte mich.
Sofort hatte ich Julia im Sinn; ich zog meinen Morgenmantel über und öffnete. Aber es war Doris.
„Du?“ sagte ich erstaunt.
„Ja, hast du jemand anders erwartet?“ fragte sie unsicher zurück. „- Aber ... wie siehst du denn aus?!“ Sie war sichtlich erschrocken über meinen Anblick. „Du bist ja kreidebleich! Fehlt dir etwas? Bist du krank?“
„Nein“, entgegnete ich. Ich fühlte mich schon etwas seltsam, irgendwie schwerelos und als ob ich zwei, drei Gläser Sekt getrunken hätte, aber nicht unbedingt unangenehm.
Doris‘ Anwesenheit war störend, und ich mußte sie abwimmeln. Julia würde jeden Augenblick kommen, und ich wollte nicht, daß die beiden sich begegneten.
„Mir fehlt nichts, Doris, bitte, geh wieder.“
„Du siehst aus wie der leibhaftige Tod. Soll ich einen Arzt holen?“
„Nein, mir geht es gut.“
„Das glaube ich nicht.“
„Bitte, geh‘“, sagte ich und drängte sie unsanft aus der Wohnung. Als es kurz darauf abermals klingelte, dachte ich, es sei wieder Doris, und öffnete leicht gereizt; doch diesmal stand Julia draußen.
„Ich sehe, du hast mich schon erwartet“, sagte sie, trat ein und sah mir tief in die Augen. Eine unendliche Ruhe breitete sich in mir aus, die Zeit stand still, und ich war wieder völlig bewegungslos, aber voller Erwartung. Willenlos schlug ich den Kragen meines Morgenmantels zurück und bot ihr meinen Hals dar.
Und sie küßte mich zum zweiten Mal. Wieder liefen diese glühenden Ströme durch mich. Reinste Euphorie, viel mehr als nur ein Rausch. Ich spürte, wie ich mich von ganz tief innen her veränderte. Es schien, als ob ich Gewichte von immenser Masse, die ich in meinem Leben aufgenommen hatte, nun von mir warf, und das Wort „Freiheit“ drängte sich in meinen Sinn, zwar noch ein wenig unklar, doch ich fühlte es in mir wachsen - Freiheit...! Gleichzeitig fiel ein nebeliger Schleier vor meine Augen, und die Welt außerhalb von mir schien nur noch wie eine Illusion; ja, mein ganzes bisheriges Leben begann irgendwie zu verblassen, zu versehwinden. Ach, es war doch sowieso alles vollkommen unbedeutend gewesen - ich, mein kümmerliches Dasein und die ganze Welt - ein Nichts im Vergleich zu einen von Julias Küssen!
Verschwommen nahm ich wahr, wie Julia sagte: „Also dann, bis morgen“, und wie sie das Fenster öffnete, wie sie sich in ein großes, schwarzes vogelähnliches Wesen verwandelte und in die dunkle Nacht hinausflog.
Ich verspürte plötzlich eine bleierne Müdigkeit und hatte nur noch den Wunsch, zu schlafen und alles zu vergessen, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte, diesen ganzen überflüssigen Ballast der sogenannten Normalität fortzuwerfen, weit, weit weg. Das war nicht mehr ich. - War ich es je gewesen?
Da klingelte es nocheinmal an der Tür.
Julia?
Langsam, fast schwebend bewegte ich mich über den Flur und öffnete.
Schon wieder Doris. Und ein fremder, älterer Mann. Wie durch dichten Nebel sah ich sie, und von ferne her erklangen ihre Stimmen.
„Dies ist Dr. Albers“, sagte Doris.
„Guten Abend, Herr Hansen. Ihre Bekannte hat mich gebeten, einmal nach Ihnen zu schauen“, kam der Doktor direkt zur Sache und musterte mich kritisch.
„Sehen Sie, er hat zwei Bißwunden am Hals“, raunte er Doris zu. Und wieder an mich gewandt, sagte er:
„Dürfte ich Sie untersuchen, Herr Hansen?“
„Nein, mir geht es gut. Bitte, verlassen Sie meine Wohnung.“
„Subjektiv mögen Sie sich gut fühlen“, erwiderte er, „aber ich weiß, daß Sie eine gefährliche Krankheit haben. Ich kenne einen Spezialisten, der Ihnen wahrscheinlich helfen kann. Es ist Professor Ulrichs ...“
„Ich brauche keine Hilfe. Ich bin müde und will jetzt schlafen. Lassen Sie mich in Ruhe!“
„Nun gut, Herr Hansen“, sagte der Doktor freundlich, „dann schlafen Sie sich erst ‘mal richtig aus. Ich werde morgen noch einmal nach Ihnen sehen.“
Als die beiden endlich draußen waren, packte ich mein Bettzeug und verzog mich auf den Dachboden, wo ich die Nacht und den folgenden Tag ungestört und tief einen traumlosen Schlaf des Vergessens schlief.

Abends begab ich mich in meine Wohnung, wo ich ohne jegliche innere Regung feststellte, daß irgend jemand die Tür aufgebrochen hatte und unverrichteter Dinge wieder verschwunden war. Wahrscheinlich Doris und Dr. Albers, vielleicht auch dieser obskure Professor, die mir allesamt völlig gleichgültig waren.
Bald darauf erschien Julia. Ich hatte sie schon sehnsüchtig erwartet und flehte sie an:
„Oh , Julia, ich liebe dich so sehr. Du hast mir eine ganz neue Seite des Lebens offenbart. So schön soll es für immer sein.
Willst du nicht bei mir bleiben?“
Sie aber antwortete ruhig und vertrauensvoll:
„Du wirst mich nicht mehr brauchen. Du wirst niemanden und nichts mehr brauchen; denn gleich wirst du frei sein.“
Jetzt küßt sie mich zum dritten Male. Diesmal ist das heiße Strömen noch intensiver; ich bin wie elektrisiert, mein Körper glüht, während mein Geist immer leerer wird. Dann verlöscht für einen zeitlosen, unendlichen Moment die Außenwelt vor meinen Augen, ein Zittern läuft durch meinen Körper, steigert sich kurz zu einem Krampf, ein spastisches Zucken, als schüttele ich meine alte Existenz von mir - und ich bin ein anderer.
Nein! Ich bin endlich ich selbst!!!
Ich besitze von diesem Augenblick an vollkommene Verstandesklarheit, und ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß ich jetzt unsterblich bin. Und ich habe Fähigkeiten, die weit über denen der Menschen liegen.
Julia lächelte mich wortlos an.
„Du ..., es ist wunderbar, unglaublich“, sage ich. „Danke dir, Julia. Tausendfach Danke!“
Noch ein letztes Mal gehen mir Doris, meine Freunde und Bekannten, meine Arbeitskollegen und Nachbarn durch den Sinn.
‚Ach, ihr kleinen, unbedeutenden Erdenwürmer!‘ denke ich, verwandele mich in meine andere Gestalt, breite die Schwingen aus, stoße mich vom Fensterbrett ab und schwebe hinaus in den weiten Sternenhimmel.








Wenn du gewußt hättest ...



Die Befreiung ist das Großartigste, was einem Menschen widerfahren kann. Natürlich weiß man das erst, wenn man schon befreit ist. Und du hättest niemals so gehandelt, wenn du es gewußt hättest; aber du konntest es ja nicht wissen.
Doch von vorn:

Nach meiner Befreiung flog ich Runde um Runde über die Stadt und genoß meinen neuen Zustand. Welch ein Gefühl, sich mit einigen wenigen Flügelschlägen in die Lüfte zu erheben und die enge, erdgebundene Menschlichkeit hinter sich zu lassen! Dann stieg ich immer höher in den nächtlichen Himmel hinauf, dem silbern leuchtenden Mond entgegen. Die Häuser und Straßen unter mir wurden immer kleiner, bis sie nur noch wie Spielzeug für Riesen oder Götter wirkten; dann waren sie ganz verschwunden, und ich konnte die Wolken von oben sehen, silbrige, schwebende Berge im Mondlicht. Ich flog noch höher, genoß die unendliche Stille und den weiten Blick über das Land. Schließlich konnte ich den Horizont als Erdenrund erkennen. Die Erfahrung der grenzenlosen Freiheit war überwältigend.
Jetzt war ich wirklich von allen Bindungen und Verpflichtungen, von allen Beschränkungen und Nöten erlöst; niemand mehr bestimmte über mein Leben als nur ich selbst. Welch ein Geschenk der Natur!
Allen Menschen sollte es so ergehen wie mir; dann würde endlich Friede, Eintracht und Glück auf der Erde herrschen, und Krieg und Leid und Elend hätten ein Ende. Ja, der Himmel auf Erden war in greifbare Nähe gerückt, und ich wußte, daß ich nur noch eine einzige Aufgabe hatte: nämlich den Menschen das Paradies zu schenken, so wie es mir geschenkt worden war.
Sofort dachte ich an Doris. Sie sollte die erste sein, die ich an dem Wunder teilhaben lassen wollte. Sie war schließlich der liebste Mensch, den ich je kennengelernt hatte.
Aus Übermut ließ ich mich im Sturzflug zur Erde fallen, unter mir erschien wieder die Stadt; ich erkannte Doris‘ Haus, und bald stand ich vor ihrer Tür.
Ich klingelte, und sie öffnete. Sie sah sehr mitgenommen aus, blaß und verweint; doch als sie mich erblickte, leuchteten ihre Augen auf.
„Oh! Du?! Bist du wieder gesund?“ fragte sie.
„Mir geht es besser als je zuvor“, antwortete ich, „genauer gesagt: ich bin ein ganz neuer Mensch, Doris!“
„So?“ Sie wurde mißtrauisch. „Dr. Albers hatte gemeint, du seist ‚verloren‘; aber er wollte sich nicht näher äußern...“
„Ach, diese Doktoren und studierten Alleswisser wissen wiedermal überhaupt gar nichts. - Ich bin hier, um dir zu zeigen, was mit mir geschehen ist. Du wirst es jetzt selbst erfahren. Vertraue mir.“
„Ich weiß nicht...“
Doch schon hatte ich ihren Blick fixiert und öffnete die obersten Knöpfe ihre Bluse. Willenlos ließ sie sich von mir in die weiche Mulde zwischen Hals und Schulter küssen. Ein ekstatisches Zucken lief durch ihren Körper.
Sie stöhnte heiß: “Oh! Oh!“ Dann entspannte sie sich und wurde schläfrig, und ich brachte sie zu Bett und ließ sie allein.

Als ich am nächsten Abend vor Doris‘ Tür stand, öffnete mir Rüdiger, ihr ehemaliger Freund, den sie wegen mir verlassen hatte.
„Was wollen Sie, Hansen? Lassen Sie Doris doch in Ruhe!“ sagte er unfreundlich. „Was ist eigentlich mit Ihnen los? Sind Sie krank?“
„Nein, ich bin nicht krank, Rüdiger“, erwiderte ich ruhig. „Ganz im Gegenteil. Ich habe den Abgrund menschlicher Unzulänglichkeiten weit hinter mir gelassen. - Und ich möchte einfach Doris daran teilhaben lassen.
Und wenn Sie wollen, können Sie auch ...“
Rüdiger unterbrach mich und fauchte:
„Verschwinden Sie, bevor ich Sie umbringe!“
„Das wird Ihnen wohl kaum möglich sein. Denn ich bin kein normaler Sterblicher mehr...“
Da ging er auf mich los: „Sie sind ja verrückt!“
Ich konnte mich ihm aber ohne weiters entziehen, indem ich mich blitzschnell verwandelte und über ihn davonflog. Mit offenem Mund starrte er hinter mir her.
Ich hätte auf ihn herabstürzen und ihn mit meinem Blick hypnotisieren und ihn küssen können. Jedoch kam er mir in diesem Augenblick unwürdig vor, befreit zu werden, so voller Ignoranz und Egoismus, was er Liebe nannte. Ich muß gestehen, ich war erregt. Doch möge man mir verzeihen; denn ich war ja erst kürzlich selbst befreit worden und trug noch die Reste menschlichen Gefühlslebens in mir. Ach, diese kleinkarierte Welt dieser sterblichen Kriecher ...!
Ich wußte, daß Doris mein Kommen ersehnte; aber solange Rüdiger bei ihr Wache hielt, wollte ich nicht mehr zu ihr. Ich mußte abwarten, bis er fort war, oder - falls er blieb - bis er eingeschlafen war.
In der Zwischenzeit konnte ich ja jemand anders auf die Befreiung vorbereiten. Da fiel mir Lydia ein. Sie war würdig, die nächste zu sein.
Ich landete auf ihrem Balkon und verwandelte mich in meine menschliche Gestalt. Ein leiser Ruf, und schon kam sie heraus.
„Du?“ fragte sie ungläubig. „Und wie bist du hier heraufgekommen?“
Doch ich verschwendete keine Worte: ein Blick, die Trance, der Kuß - fertig.

Dann flog ich wieder zu Doris. Von ihrem Fenstersims konnte ich in die Wohnung blicken. Rüdiger saß im Flur im Sessel, das Kinn auf der Brust, und schlief.
Ich klopfte sacht an die Scheibe, und Doris öffnete mir. „Wo warst du?“ fragte sie. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“
„Rüdiger ließ mich nicht herein. Jetzt schläft er“, flüsterte ich.
„Ach, Rüdiger ...“, sie schien sich nur mühsam zu erinnern,“ ... und Dr. Albers war auch hier, mit diesem Professor ..., sie wollen unser Glück vereiteln, sie sind ja so dumm ...“
‚Am besten wäre es unter diesen Umständen‘, dachte ich, ‚wenn ich sie jetzt gleich zweimal küssen und sofort befreien könnte.‘ Aber im selben Moment wußte ich intuitiv, daß das nicht möglich war; denn zwischen zwei Küssen muß jedesmal eine Nacht verstreichen; ansonsten würde der zweite Kuß ohne Wirkung bleiben. Oder die Küsse müßten von verschiedenen Befreiern gegeben werden; auf diese Weise könnte ein Mensch durch das Zusammenwirken dreier von uns in einer einzigen Nacht erlöst werden. Doch das kam jetzt leider nicht in Frage. - Rüdiger, Dr. Albers und all diese Trottel begannen mir langsam, auf die Nerven zu gehen ...
„Ich denke, es ist besser, wenn wir uns morgen abend irgendwoanders treffen“, sagte ich zu Doris, „vielleicht außerhalb der Stadt. Wie wäre es bei der neuen Brücke?“
„Ja.“
Dann folgte der zweite Kuß; ich konnte ihn gerade noch rechtzeitig beenden, als ich draußen auf dem Flur Geräusche hörte. Rüdiger war aufgewacht und hastete ins Zimmer.
„Hansen! Sie Verbrecher!“ schrie er und stürzte wütend auf mich zu.
Das Fenster stand noch offen, und ich sprang kopfüber hinaus, verwandelte mich im Fallen und flog davon.

Am drauffolgenden Abend wartete ich bei der Brücke, die sich noch im Bau befand, auf Doris. Doch sie war nicht da. Ich suchte das Gelände ab, schaute in die Bretterbaracke und in den Bauwagen, auch auf die Bulldozer und Lastwagen - jedoch nirgends eine Spur von ihr.
Also flog ich zu ihrer Wohnung. Durch das Fenster sah ich, daß drinnen ratlose Aufregung herrschte, ein großes Durcheinander. Etwa ein halbes Dutzend Personen waren anwesend, Rüdiger, Dr.Albers und einige, die ich nicht kannte. Doris fehlte.
Gerade kam Kommissar Jester herein, als Rüdiger verzweifelt sagte:
„Ich war nur ‘mal für ein paar Minuten draußen, und da war sie schon verschwunden.“
„Wir müssen sie suchen. Sie kann noch nicht weit sein“, meinte Dr.Albers.
Und Kommissar Jester schlug vor:
„Wir sollten uns aufteilen ...“
Ich wußte nun genug und flog wieder zur Brücke. Doch immernoch keine Spur von Doris.
Nun gut, es würde noch für einen kleinen Abstecher zu Lydia reichen.

Eine Viertelstunde später traf ich Doris dann schließlich auf der Brücke.
„Wo warst du?“ fragte sie sehnsuchtsvoll.
„Wir müssen uns beeilen. Rüdiger, Kommissar Jester und noch ein paar andere suchen dich.“
„Warum lassen sie uns nicht in Ruhe? Wieso gönnen sie uns unser Glück nicht?“
„Sie können es nicht verstehen.“
„Laß uns fliehen, weit fort von hier.“
„Nein, Doris, wir brauchen nicht zu fliehen. Noch einen Kuß nur. Was du bisher erlebt hast, ist nichts im Vergleich zu den, was danach kommt. Du wirst frei sein, und niemand mehr kann dir noch irgendetwas anhaben.“
Dann sah ich tief in ihre schönen Augen, und sie sank in meine Arme. Von ferne sahen wir sicherlich aus wie ein Liebespaar, und - falls es da zufällig einen Beobachter gab - der Gedanke störte mich überhaupt nicht. Doris war in ihrer menschlichen Form so schon ein wundervolles Wesen, und es war mir eine Ehre, dieses Juwel der Schöpfung noch vervollkommnen zu dürfen.
Ich hatte meine Zähne gerade wieder aus ihrer Halsschlagader gezogen, da hörte ich hinter mir Schritte rasch näherkommen.
Es war Rüdiger; grimmig stürmte er herbei und kreischte:
„Hansen, Sie Schwein! Ich bring‘ Sie um!“
Doris, die neben mir stand, nahm von alledem nichts wahr. Sie war noch zu sehr mit ihrer Befreiung und den inneren Veränderungen beschäftigt. Zwei rote Blutspuren liefen ihren Hals hinunter auf ihre Brust.
Plötzlich realisierte Rüdiger, was geschehen war, hielt inne und sah sich um. Dann griff er sich aus einem Stapel Baumaterial einen spitzen Holzpfahl und näherte sich mir langsam.
Uuh! Das wurde setzt gefährlich. Mein Instinkt alarmierte mir äußerste Bedrohung; denn dies ist die einzige Gefahr für einen Befreiten - ein spitzes Holz! Eine periphere Verletzung damit kann einen von uns schon wehrlos machen, vor allem blockiert sie die Verwandlungskraft; ein Treffer ins Herz aber ist absolut tödlich, und mehr als das: kein Jenseits und keine Wiedergeburt! Es bedeutete das totale Verlöschen jedweder Existenz eines Befreiten.
„Dr.Albers hatte also doch recht mit seiner Vermutung“, sagte Rüdiger wohl mehr zu sich selbst als zu mir.
Ich mußte wenigstens Zeit gewinnen; denn Doris befand sich noch in einem Zustand der völligen Hilflosigkeit; sie mußte schnellstens zu sich kommen, damit wir flüchten konnten.
Ich versuchte, Rüdigers Blick zu fixieren, seinen Geist zu bannen.
Aber er lachte nur:
„Hansen, ich weiß Bescheid über Sie und euresgleichen!“ und zog seine verspiegelte Sonnenbrille aus der Jackentasche und setzte sie auf. Ich spürte gleichzeitig, wie meine Macht über ihn verschwand. Dummerweise schien der Mond so hell, daß Rüdiger durch die Sonnenbrille kaum beeinträchtigt wurde.
Nun holte er mit dem Holzpfahl aus und schleuderte ihn mit voller Wucht auf mich.
Im selben Augenblick gelangte Doris wieder zu Bewußtsein, erkannte sofort, was gerade geschah, und warf sich schützend vor mich, obwohl ich schon ausgewichen war. Der Pfahl traf sie quer vor die Stirn, sie taumelte benommen rückwärts und - genau an der Stelle, wo das Brückengeländer noch nicht fertiggestellt war, stürzte sie in die Tiefe. „Flieg, Doris! Verwandle dich! Du kannst fliegen!“ rief ich ihr hinterher. Doch ob sie mich nicht gehört hatte, weil vielleicht der Schlag sie wieder betäubt hatte, oder ob ihre Umwandlung noch nicht ganz vollendet war - ich weiß es nicht; sie prallte hart unten auf das Straßenpflaster. Der Pfahl aber fiel, sich überschlagend, hinter ihr her und - oh Unglück! bohrte sich genau durch ihr Herz. Regungslos starrten Doris tote Augen in die ferne Unendlichkeit.
Rüdiger kam herbeigelaufen, glotzte entsetzt hinab und schrie ein grelles, irrsinniges:
„Neiiiiin!“ und sprang seiner Geliebten nach.
Er fiel direkt neben sie; jedoch waren seine Augen geschlossen.








Wenn ihr wüßtet ...



Wie erhaben es ist, mit ausgebreiteten Flügeln durch die milde Sommerluft zu gleiten!
Der Vollmond leuchtet am Nachthimmel und schattige Wolken schweben langsam vorbei, als wollten sie mich auf meinem Weg zu Lydia geleiten. Wir sind verabredet. Genau um Mitternacht wird sie auf ihrem Balkon stehen und mich erwarten. Und dann werde ich sie zum dritten Male küssen, in die Beuge zwischen ihrem lieblichen Hals und ihrer anmutigen Schulter, dort wo die Schlagader liegt.
Ich weiß, sie sehnt sich nach mir und dem erlösenden Kuß, der sie befreien wird aus dem Dasein menschlicher Unzulänglichkeiten. Dann wird auch sie die Vollendung erreicht haben und unsterblich sein, wie wir alle, die befreit sind. So müssen sich die Götter gefühlt haben! Bar der kleinlichen Bedürfnisse, Wünsche, Nöte und Ängste der Menschen.
Unsereins denkt nicht mehr in Tagen oder Jahren; nein, Jahrhunderte warten auf uns, und wir sehen ihnen mit überirdischer Ruhe und Gelassenheit entgegen.
Uns gehört die Welt!
Und die Zukunft. Zumindest aber deren Nächte; denn tagsüber müssen wir ja schlafen.
Kurz vor Mitternacht erreiche ich die Kirche und drehe noch einige Runden um den hohen Turm. Von hier oben kann ich Lydias Haus am Stadtrand sehen; just bevor der Uhrzeiger auf die Zwölf vorrückt, drehe ich ab und fliege hinüber.
Früher habe ich Lydia einmal geliebt, und ich weiß, daß sie mich immer noch liebt. Doch wenn man ersteinmal befreit ist, dann zählt die Liebe nichts mehr; sie erlischt wie eine Kerzenflamme, die einfach ausgeblasen worden ist - und nichts ist mehr da von dieser egoistischen Verwirrung, welche die Mensehen für die höchste aller Tugenden halten. Nein, es gibt dann nur noch eine einzige Tugend, nämlich andere an der eigenen Befreiung teilhaben zu lassen.
Dies geschieht durch den dreimaligen Kuß, bei dem es sich keineswegs um plumpe Nahrungsaufnahme handelt. (Wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, weiß rein gar nichts von der Befreiung. Danach benötigt man keine Nahrung mehr.) Doch ist dies mehr als eine Tugend. Es ist ein Gesetz, das einzige und letzte aller Gesetze, das noch für uns gilt. Und wir spüren seine Macht besonders bei Vollmond.
Da ertönt die Kirchturmglocke, und beim zwölften Schlag lande ich auf Lydias Balkon und verwandle mich in meine menschliche Gestalt. Im gleichen Augenblick öffnet sich die Tür und Lydia tritt heraus. Sie schaut etwas schlafwandlerisch einher; aber das ist immer so zwischen dem zweiten und dem dritten Kuß. Danach wird sie zur vollen geistigen Klarheit erwachen.
„ Lydia“, sage ich, und sie sieht mich wie durch einen Schleier an und stöhnt schwach.
Ihr leichtes, fließendes Nachtgewand läßt ihre Schultern und ihren Hals frei. Ich umfasse ihre Taille und senke meinen Mund in jene Beuge zwischen Hals und Schulter.
Da kracht ein Schuß durch die Nacht. Ich spüre den Einschlag des Geschosses im Rücken.
Natürlich können sie mich so nicht töten. Sofort verwandle ich mich wieder und fliege in den dunklen Himmel.
„Hansen!“ ruft jemand hinter mir her. Es ist Dr. Albers, neben ihm Dietmar, Lydias Bruder, ein Gewehr in der Hand.
„Hansen! Wir werden Sie kriegen! Sie und Ihre Leute!“
„Sie gemeine, blutrünstige Bestie!“
setzt Dietmar hinzu, legt an und schießt wieder.
Die Kugel pfeift an mir vorbei; ich steige noch höher. Unten schaffen sie Lydia, die ohnmächtig geworden ist, ins Haus.
Es macht mich schon betroffen, daß die Menschen uns hassen und uns nach dem Leben trachten, während wir sie doch erlösen wollen aus den Niederungen von Haß, Gier und Angst hin zum hohen Adel der Unsterblichkeit.
Aber man lernt, damit zu leben, hat mir Julia versichert, nachdem sie mich befreit hatte. (Das scheint mir schon so lange her.) Ja, ob eigene oder fremde Gefühle - diese unkontrollierten Wallungen des animalischen Gemüts bedeuten einem bald gar nichts mehr. Ich merke es deutlich bei mir: Empfand ich unmittelbar nach meiner Befreiung noch tiefe Dankbarkeit gegenüber Julia, so ist diese bereits vollständig verschwunden. Sie wurde durch die Erkenntnis ersetzt, daß der Mensch das einzige Wesen dieses Planeten ist, welches die Fähigkeit der Befreiung hat, und daß deren Verwirklichung ein Naturrecht jedes Einzelnen ist.
Ich schüttle die Kugel aus meinem Fell - die Wunde hat sich schon wieder verschlossen - und drehe einige Runden hoch über dem Haus; unten ist alles ruhig. Ich sinke langsam tiefer und kreise um das Gebäude. Als ich das Zimmer, in dem sich Dr. Albers und Dietmar um Lydia bemühen, entdeckt habe, lasse ich mich auf dem Fenstersims nieder.
Die Stimmen drinnen kann ich gut vernehmen.
„Es sind zwischen achtzig und hundert, schätzt Johannes, allein in und um unserer Stadt. Und vor zwei, drei Jahren herrschte noch Ruhe ...“, sagt Dietmar, sichtlich erregt.
Der Doktor, der Lydia eine Spritze gibt, antwortet:
„Ja, wir müssen etwas unternehmen. Es werden immer mehr. Ölmann sagte mir, man arbeite bereits an einem Plan; aber dazu brauchten sie einen von ihnen - und zwar lebendig.“
„Wie soll das geschehen?“ fragt Dietmar skeptisch. „Sie haben ja gesehen, was war: Der Treffer saß, und es hat ihm nichts ausgemacht!“
„Man müßte eine Falle aufstellen“, erwidert der Doktor. „- So, Lydia wird jetzt schlafen, bis etwa morgen mittag. Dann werde ich wieder nach ihr sehen.“
Sie löschen das Licht und verlassen das Zimmer.
Als alles still ist, drücke ich leicht gegen das Fenster. Ja, es ist nur angelehnt. Ich verwandle mich in meine menschliche Gestalt und steige hinein.
Zielstrebig gehe ich im fahlen Mondlicht hinüber zu Lydia, ziehe die Bettdecke ein Stück hinunter und bohre meine Eckzähne in ihr Fleisch. Ein wollüstiges Zucken durchläuft ihren Körper; aber sie erwacht nicht.
Da ertönt plötzlich von draußen ein Ruf. Die schweren Fensterläden schlagen zu, und es wird stockfinster im Raum. Gleichzeitig verschließt jemand von außen die Zimmertür.
Ich springe ans Fenster; doch die Läden sind fest verschlossen. Durch die Ritzen sehe ich, daß sie mit einer Leiter verkeilt sind.
Vor der Tür nähern sich Schritte. Stimmengemurmel ertönt.
„Ist er drinnen?“ (Dietmar)
„Ja, ich glaube.“ (Dr. Albers)
„Er muß drinnen sein. Otto schwört, er hat ihn hineinsteigen sehen.“
„Und was machen wir jetzt?“ (Lydias Mutter)
„Ich werde Ölmann anrufen. Und Johannes.“ (Dietmar)
Ich sehe mich im Zimmer um; das Fenster und die Tür sind die einzigen Ausgänge. Ich sitze also in jener Falle, von der sie gerade zuvor noch gesprochen haben.
Panik steigt langsam in mir hoch. Sie haben mich. Sie brauchen nur den Tag abzuwarten und dann die Fensterläden öffnen. Das Sonnenlicht wird mich paralysieren. Und dann brauchen sie nur noch mit dem Holzpflock ...
Nein, sie wollen mich ja lebend! Ich habe also eine Chance.
Draußen wieder Stimmengemurmel.
„Sie kommen sofort her. Ölmann will noch Professor Ulrichs und Kommissar Jester anrufen.“ (Dietmar)
„Hansen!“ ruft Dr. Albers durch die Tür.
„Hansen, hören Sie mich?“
Dumme Frage. Natürlich. Sie sind mindestens genauso aufgeregt wie ich. Das macht mich ruhiger.
„Hansen, antworten Sie!“ ruft Dietmar mit zitternder Stimme.
„Er hat Angst“, sagt der Doktor, dann wieder zu mir:
„Sie waren etwas zu dreist, mein Lieber!“
„Ölmann sagte, wir sollten auf keinen Fall die Tür öffnen.“ (Dietmar)
„Aber Lydia ist noch drinnen ...“ (Lydias Mutter)
Schweigen.
Lydia interessiert mich jetzt überhaupt nicht mehr. Meine Situation scheint aussichtslos; aber ich bewahre Ruhe; ich muß die geringste Gelegenheit nutzen.
Schon bald fährt draußen ein Wagen vor. Schritte auf dem Kies. Die Haustür wird geöffnet.
„Wo ist er?“ (Ölmann)
„Oben, in Lydias Zimmer.“ (Dr. Albers)
„Und Lydia?“ (Prof. Ulrichs)
„Ist noch drinnen.“ (Dietmar)
Sie sind also alle unten im Flur! Ich nehme Anlauf und werfe mich mit aller Kraft gegen die Tür. Die ächzt in allen Fugen und Angeln, hält aber stand.
„Er will ausbrechen“, ruft Dietmar und stürmt die Treppe herauf, die anderen hinterher.
„Schnell, den Schrank vor die Tür!“ (Ölmann)
Ein Schieben und Scharren. Dann wieder Stille, Aber nur kurz.
„Was geschieht nun?“ (Dr. Albers)
„Wir waren noch eben bei Lohmüller und haben allen Knoblauch aufgekauft, den sie hatten“, sagt Prof. Ulrichs.
„Und meinen Kompressor habe ich auch mitgebracht ...“, fügt Ölmann hinzu.
Ich ahne, was sie mit mir vorhaben, und mir wird jetzt schon schlecht bei dem Gedanken, was mich erwartet. Aber ich kann nichts tun. Ich muß durchhalten, bis sie einen Fehler machen.
Nach wenigen Minuten fahren draußen zwei weitere Wagen vor. Auch einige Nachbarn sind inzwischen gekommen. Das Haus füllt sich langsam mit Menschen. Draußen vor der Tür wird der Schrank wieder fortgerückt.
Ich erwarte, daß sie die Tür öffnen und nehme eine sprungbereite Stellung ein. Ich würde mich sofort verwandeln und über ihren Köpfen hinausfliegen.
Aber die Tür bleibt verschlossen. Stattdessen ein feines Schaben am Schlüsselloch. Sie schieben eine Metallröhre hindurch. Dann wird ein Motor angeworfen - der Kompressor!
Und schon beginnt sich das Zimmer mit dem Dunst zerstoßener Knoblauchknollen zu füllen.
Ich huste, versuche die Luft anzuhalten - so ein Unsinn!
Mir wird übel. Ich verliere das Gleichgewicht und muß mich setzen. Knoblauch wirkt bei uns so ähnlich wie Alkohol bei den Menschen. Mein Geist vernebelt sich langsam, und ich beginne, das Gefühl für die Zeit zu verlieren. Dann muß ich mich erbrechen und falle schließlich um.
Der Kompressor tuckert weiter.
Die Stimmen draußen kann ich nicht mehr verstehen; von immer weiter entfernt scheinen sie zu kommen.
Die Magenkrämpfe sind unerträglich. Zuletzt habe ich jegliche Orientierung verloren und werde apathisch.

Nach einer Ewigkeit hört der Kompressor auf zu arbeiten. Die Tür wird vorsichtig einen Spalt weit geöffnet. Der Lichtkegel einer Taschenlampe fährt durch‘s Zimmer und bleibt auf mir liegen.
„Er scheint sich nicht besonders wohl zu fühlen“, sagt Ölmann zynisch.
Dann geht die Beleuchtung an, und alle strömen in den Raum.
Ölmann und Jester werfen ein Netz über mich und schleifen mich die Treppe hinunter.

Ich verbrachte etwa vier Wochen in einem Käfig aus Maschendraht im Keller der Polizeiwache, wo verschiedene Doktoren und Professoren mich begutachteten. Man behandelte mich den Umständen entsprechend gut und versicherte mir, daß man mich nicht töten würde, da ich für die Wissenschaft zu wichtig sei. (Ich war offensichtlich der einzige Unsterbliche, den sie gefangen hatten.)
Dann wurde ich - nachts natürlich - umgesiedelt in den Keller der Universität.
Hier begannen nun ganze Serien von Tests und Untersuchungen, die ich über mich ergehen lassen mußte, anfangs widerwillig, doch später nur noch verbal protestierend. Das Personal verhielt sich relativ fair zu mir.
Allein die Vollmondnächte waren unerträglich; ich flatterte von abends bis morgens in meinem Käfig umher und war dann nichts als ein hilfloses Opfer des Gesetzes.
Doch ansonsten hatte ich mich meiner Lage entsprechend eingerichtet, hatte meinen Gleichmut und die alte Überlegenheit wiedergewonnen und wartete ab. Ich würde sie kommen und gehen sehen, die Herren Professoren und Gelehrten; und wenn es hundert Jahre dauert - irgendwann würde ich meine Chance haben und die Flucht ergreifen. Oder, was wahrscheinlicher war, sie würden selbst erlöst werden und mich dann von sich aus freilassen.
Nach etwa einem halben Jahr zwang man mich, täglich irgendwelche Arzneien zu schlucken und führte weitere Beobachtungen und Analysen durch.
„Wollen Sie mich kurieren?“ hatte ich Prof. Ulrichs ironisch gefragt.
„Nein, wir mußten feststellen, daß das nicht möglich ist“, hatte er sachlich geantwortet.
„Aber wir möchten uns vor euch schützen. Und das wird möglich sein“, fügte er mit Bestimmtheit hinzu.
Gestern abend kam der Professor herein, verabreichte mir meine tägliche Gabe und sagte:
„So, das war's dann wohl. Wir erwarten, daß wir Sie morgen entlassen können.“
„Entlassen?“ fragte ich ungläubig.
„Ja. Entlassen.“ Der Professor war richtig freundlich zu mir.
„Wir haben nämlich ein Serum entwickelt, mit dem wir uns impfen können und werden. Und dieses Serum macht uns nicht nur immun gegen euereins, sondern es macht euch gleichzeitig völlig ungefährlich für uns. Und das schon beim allerkleinsten Bißchen.“
Dann lachte er laut auf und verschwand.

Er hatte recht; sie haben es geschafft. Als ich heute abend aufwachte, waren mir sämtliche Zähne aus dem Mund gefallen.








Wenn sie wüßten ...




Sie hatten gerade ihr eigenes Schicksal besiegelt, waren gutgläubig ins Unheil getappt.
- Eine gewaltige Katastrophe, von der noch niemand etwas ahnte.
Als ich am Abend aus der Universitätsklinik trat, glaubte ich beinahe, ich befände mich auf einem anderen Planeten, so sehr hatte sich die Welt in den Monaten meiner Gefangenschaft verändert.
Die Zahl der Befreiten hatte sich vervielfacht, ganze Stadtviertel waren verlassen, und die verbliebenen Menschen hatten ihre Häuser verbarrikadiert und verließen sie nur noch am Tage, wenn wir schliefen. Und während die Straßen wie ausgestorben schienen, war der Himmel um so mehr bevölkert.
Ich verwandelte mich, breitete die Schwingen aus und erhob mich in die Lüfte. - Freiheit!
Endlich. Ich atmete die frische Nachtluft tief ein und genoß das leichte Segeln über die Dächer. Immer und immer wieder drehte
ich meine Runden; ja, das war das wahre Leben, und jetzt hatte es mich zurück. Nun, um ehrlich zu sein: nicht ganz vollständig. Aber noch störten mich meine fehlenden Zähne nicht.
Ich könnte den Professor umbringen! - Mir graute vor dem nächsten Vollmond ...

Am selben Abend sah ich Lydia von weitem.
Als ich erkannte, daß sie es doch noch geschafft hatte, brauchte ich nicht mehr zu ihr hinüberfliegen, genausowenig wie sie zu mir.
Später in der Nacht traf ich dann auch Dietmar, der, als er mich sah, direkt zu mir herübersegelte. Er war wohl erst seit kurzem befreit und noch ganz überschwenglich. Nachdem er sich bei mir entschuldigt hatte, daß er an meiner Gefangennahme beteiligt gewesen war, erfuhr ich von ihm, ohne daß es mich erstaunt hätte, wer alles von den vormals so biederen Bürgern inzwischen zu uns gehörte: Dr. Albers, Kommissar Jester und viele andere. Außerdem sagte er, daß es eine Gruppe um Ölmann und Johannes gab, die regelrechte Jagden auf die Befreiten machten.
„Passen Sie vor allem im Kirchenviertel auf“, warnte er mich. „Sie haben ganz üble Methoden, sie benutzen zum Beispiel extrem starke Klebstoffe oder spannen unsichtbare Netze. Und sie töten ihre Opfer gnadenlos.“
„Ich befürchte, Dietmar, die Zeit der Verfolgungen ist vorbei“, sagte ich und klärte ihn über das Ende meiner Gefangenschaft auf.
„Es ist ihnen also gelungen“, sagte er mehr zu sich selbst, und das Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Ja, die Konsequenzen waren nicht absehbar.
Sicher, einerseits hatten die Menschen einen wirksamen Schutz, und sobald sie allesamt geimpft und damit immun waren, war die weitere Befreiung der Menschheit ein für allemal verhindert, und es war auch absehbar, daß bereits nach spätestens zwei bis drei Vollmonden der letzte Befreite seinen letzten Zahn verloren haben würde.
Was aber genau dies bei uns bewirken würde, nämlich, daß eine ganze Spezies ihrem Gesetz nicht folgen konnte, das war nicht vorhersehbar. Diese Übermenge an Energie mußte irgendwohin ...
Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile sowohl unter den Menschen, als auch unter den Befreiten, und die Welt veränderte sich abermals:
Im Verlauf weniger Tage wurden die Straßen wieder belebt, und die Menschen begannen, sich wieder ungezwungen zu bewegen; sie flohen am Abend und in der Nacht nicht mehr vor ihren Befreiern, sondern stellten sich ihnen, wohlwissend, daß der andere auch Bescheid wußte, daß er nur noch einen letzten Kuß hatte. Und so vertauschten sich die Rollen, und die Befreiten mieden jetzt die Menschen.
Stattdessen begannen nun die Befreiten, welche von ihrem Wesen alles andere als gesellig sind, sich zu versammeln und zu beratschlagen, was zu tun sei. Aber die Lage war aussichtslos.
Auch als bekannt wurde, daß das Serum doch nicht die gewünschte Immunität erbrachte, und daß ein bereits geimpfter Mensch immer noch durch drei verschiedene Küsse dreier verschiedener Befreier selber befreit werden konnte, änderte sich die depressive Stimmung unter uns nicht, blieb unser Los doch unabwendbar. Nebenbei gesagt, verlor ein bereits geimpfter und derart Befreiter sofort nach der Verwandlung ebenfalls seine Zähne, so daß auf diese Weise eine Nachkommenschaft mit der Fähigkeit zur Befreiung anderer nicht wiederhergestellt wurde.
Es gab also keine Rettung für uns und die Menschen, und unsere Ratlosigkeit mutierte zu einer unheimlichen Hoffnungslosigkeit.
Und da ich selbst die Ehre gehabt hatte, bei der Entwicklung des Serums als Versuchskaninchen die Hauptrolle gespielt zu haben, begann man mich zu meiden; ja, ich fühlte mich manchmal regelrecht aus dem Kreis der Befreiten ausgestoßen, was mich nicht unberührt ließ.
So begann in mir eine Idee zu gären, ein Wunsch nach Vergeltung, aber nicht im niederen menschlichen Sinne einer „primitiven“ Rache, sondern geläutert und veredelt, als der reine und uneigennützige Wunsch eines Befreiten, jemand anderen an der eigenen Befreiung teilhaben zu lassen. Kurz, ich wollte doch wenigstens dem Professor in aller Deutlichkeit demonstriert haben, welches Unheil er da angerichtet hatte, d.h. ich erachtete es aus der tiefsten Tiefe meines Herzens heraus für unbedingt nötig, den Professor zu befreien, solange es noch möglich war.
Ich brauchte also drei Freiwillige, die bereit waren, sich bzw. ihre Zähne für den Professor zu opfern; natürlich fand ich sie nicht. Soweit meine Artgenossen überhaupt mit mir sprachen, leuchtete ihnen mein Vorschlag selbstverständlich ein. Vor allem war es klar, daß die gemeinschaftliche Tat nicht an einem Vollmond stattfinden konnte, da zu dieser Zeit das Gesetz keine koordinierte Aktion in einer Gruppe zuließ. Jedoch in Anbetracht des nahenden Vollmondes, der für sie die allerletzte Erfüllung des Gesetzes bedeutete, war der Kuß zu einem teuren Gut geworden, und niemand, küßte mehr freiwillig, sondern alle warteten wie gebannt auf das Unausweichliche.
Die meisten Menschen waren über die reale Situation informiert und speziell auch über unsere eigene Problematik, nicht zuletzt durch die zunehmenden freundlichen Kontakte zwischen beiden Arten, und eine Mitleidswelle ergoß sich über uns - wie peinlich! Ein Befreiter braucht kein Mitleid. Und schon gar
nicht von einem Menschen.
So bildeten sich die verschiedensten karitativen Gruppen; die einen wollten uns religiösen Trost spenden (einfach albern!), andere wollten uns therapieren (unglaublich, diese Ignoranten!), und wieder andere begannen, bißfeste Gummipuppen herzustellen und für den Tag X bereitzuhalten (wie pervers!).
Die Spannung auf beiden Seiten wuchs ...

Und dann kam die Vollmondnacht.
Einige Befreite hatten sich von ihren Artgenossen in Käfigen oder Kellern einschließen lassen. Sie sahen keine andere Möglichkeit, wohlwissend, daß sie dennoch dem Unvermeidlichen nicht entgehen konnten, denn niemand von ihnen würde diese Tortur ein zweites Mal über sich ergehen lassen. Andere hatten sich in menschenleere Gegenden zurückgezogen. Ebenso aussichtslos.
Wiederum andere hatten kleine Gruppen gebildet und sprachen sich gegenseitig Mut zu, hoffend, mit reiner Willenskraft dem Gesetz zu widerstehen. Aber eigentlich wußten sie ganz genau, daß das Gesetz stärker sein würde.
Es war trostlos, all diese verzweifelten Versuche anzusehen, wie sie sieh vergeblich ihrem Schicksal zu entwinden versuchten.
Als die Dämmerung hereinbrach, verschwanden die Menschen in ihren Häusern; sie hatten schon noch Respekt vor uns. Lediglich die sogenannten „Erlöser“, eine quasi-religiöse Bewegung, die es auf einen oder zwei Küsse ankommen ließen, um unseren unabwendbaren Untergang zu beschleunigen, befanden sich noch in den Straßen, unter ihnen, natürlich getarnt, Ölmanns erbarmungslose Miliz und hier und da einige Haufen dieser üblen Gummipuppen.
Kaum war die Sonne untergegangen, stürzten zahllose Befreite vom Himmel herab auf die zahlenmäßig weit unterlegenen Menschen, unter denen bald eine Panik ausbrach. Viele der „Erlöser“ wurden so unfreiwillig selbst erlöst und tatsächlich befreit. Und zwischendrin feuerte die Anti-Befreiungs-Miliz aus ihren Holzpflockgewehren auf die unsrigen.
Ich kreiste über dem ganzen Geschehen und erschauderte: Es war ein fürchterliches Gemetzel, ein völlig ungleicher Kampf. Die Miliz war viel stärker, als wir angenommen hatten, sie benutzten geschickt die „Erlöser“ als Lockvögel, und unsere Verluste waren hoch.
Während ich so meine Runden drehte und mit gesträubten Fell die Szenerie beobachtete, realisierte ich plötzlich, daß das Gesetz, der Vollmond, ja gar keine Wirkung auf mich hatte!
Offenbar war mit meinen Zähnen auch die Macht des Gesetzes über mich verschwunden.
Na, immerhin.
Und so zog ich mich für den Rest der Nacht aus der Stadt zurück in einen nahegelegenen Wald, wo ich eine verlassene Höhle kannte, in der ich den kommenden Abend abwarten wollte.

In der nächsten Nacht hatten sich alle überlebenden Befreiten der ganzen Umgebung auf dem Friedhof, der etwas außerhalb der Stadt lag, versammelt und hielten Rat.
Die Erkenntnis, daß der Verlust der Zähne eine Befreiung von dem Gesetz bedeutete, beruhigte alle zutiefst; es erwarteten uns jedenfalls keine Qualen. Auch die letzten wenigen Befreiten, die ihre Zähne noch besaßen, konnten so einigermaßen zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Unser Schicksal war also erträglich; allerdings war das Schicksal der Menschen besiegelt. Die große Befreiung der Menschheit war zuende, und den beiden Spezies blieb nichts anderes übrig, als sich miteinander zu arrangieren und diesen Planeten gerecht untereinander aufzuteilen.
Es war klar, daß die Menschen nichts mehr von uns zu „befürchten“ hatten. Aber umgekehrt gab es da noch die Anti-Befreiungs-Miliz, die uns vernichten wollte. Es wurde daher allgemein festgestellt, daß die wichtigste Aufgabe war, einen Frieden mit der Miliz zu schließen. Ansonsten wären wir gezwungen, einen Krieg gegen die Unverbesserlichen zu führen,.was niemand von uns wünschte.
Ferner hatte sich meine Idee der Vergeltung an Professor Ulrichs herumgesprochen und bei den allermeisten Befreiten Zustimmung gefunden. Man bat also die letzten Befreiungsfähigen nach vorn.
Es waren noch genau drei übrig!
Und sie waren bereit, es zu tun.
Es sollte noch in dieser Nacht geschehen; keine Zeit durfte vergeudet werden. Nur, wie sollten wir vorgehen? Die einen meinten, ein kleiner, unauffälliger Trupp sollte sich in das Haus des Professors schleichen und ihn im Schlaf überraschen. Doch die anderen wendeten ein, daß die Gefahr zu groß sei, von der Miliz entdeckt und überwältigt zu werden. Es wäre besser, wenn alle Befreiten auf einmal die Stadt überrennen würden und für allgemeine Verwirrung sorgten; in diesem Durcheinander dürfte es ein Leichtes sein, daß eine vorher bestimmte, auch nicht zu kleine Gruppe, den Professor fängt und ihn seiner Befreiung zuführt.
Gesagt, getan.
Mit lautem Gebrüll fielen wir über die Stadt her. Die wenigen Passanten auf den Straßen flüchteten sofort in die Häuser, und wir beherrschten die Szenerie. Einzelne Milizen feuerten ihre Holzpflockgewehre aus dem Hinterhalt auf uns ab, und einige von uns wurden getötet.
Die Gruppe um die drei Befreier gelangte fast ungehindert zu dem Haus des Professors, stürmte hinein und zerrte den Professor aus dem Bett.
Am ganzen Leibe zitternd stand er vor uns.
„Hansen, was haben Sie vor?“ fragte er mich, und die Angst schrie aus seinen Augen.
„Aber, Herr Professor“, versuchte ich, ihn zu beruhigen, „wir wollen Ihnen nichts Böses tun. Wir haben Sie auserwählt als den letzten Menschen der Welt, der die Gnade hat, befreit zu werden. Vor Ihnen stehen die letzten drei von uns, die noch ihre Zähne haben.“
Der Professor flehte uns an:
„Bitte, haben Sie Erbarmen! Bedenken Sie, daß ich ganz bewußt niemanden töten wollte. - Hansen ...!“
„Wir wollen Sie auch nicht töten, Herr Professor, ganz im Gegenteil. Aber jetzt genug der Worte - kommen wir zur Tat!“
Und die drei Befreier traten auf Professor Ulrichs zu und fixierten seinen Blick; ein letztes Aufbäumen; doch schon starrte er mit glasigen Augen geradeaus und ließ willenlos die drei nacheinander ihre Pflicht tun.

Es dauerte vielleicht zehn Minuten, dann erwachte der Professor aus seiner Trance, schüttelte sich, atmete tief durch und blickte in die Runde.
Alle Anwesenden erkannten an seinen klaren Augen, daß er nun zu ihnen gehörte, und auch der Professor erfaßte sofort, was geschehen war. Er sank auf die Knie, die Tränen strömten mit einem Mal über seine Wangen, und während wir schweigend und ohne Sentimentalität um ihn herumstanden, stammelte er:
„Danke Ihnen, Hansen, danke euch allen ... - ich ..., ich wußte es nicht ... - mein Gott, was habe ich getan?!
- Wird die Menschheit mir je verzeihen können?“








Wenn er gewußt hätte ...




„Aber wie kann ein Mensch das auch nur ahnen!“ sagte der Professor. Er hätte natürlich alles ganz anders gemacht. Vor dem Haus erhob sich nun ein großer Tumult. Die Miliz hatte unser Vorhaben erkannt, und sie versuchten, das Gebäude zu erstürmen. Unsere Freunde draußen, die nicht wußten, wie weit wir drinnen mit der Befreiung des Professors waren, leisteten erbitterten Widerstand; sie fielen zu Dutzenden den Holzpflockgewehren der Milizen zum Opfer.
Inzwischen hatte der Professor seine Fassung wiedergefunden. Er erhob sich und sagte:
„Gehen wir.“
Er verließ als erster das Haus. Ölmann sah ihn und rief:
„Wir holen sie da ‘raus, Herr Professor!“
Doch dieser entgegnete:
„Zu spät! Geht nachhause! Es ist alles vorbei.“
Mit einem Male herrschte Totenstille. Es schien, als ob erst jetzt allen Beteiligten wirklich klar wurde, was geschehen war, und daß es kein Zurück mehr gab.
Ölmann, eben noch darauf bedacht, den Professor zu retten, wußte, daß er ihn jetzt eigentlich töten müßte; stattdessen gab er, offenbar ziemlich verwirrt, den Befehl zum Rückzug, so daß wir unbehelligt aus der Stadt fliegen konnten.
Draußen auf dem Friedhof versammelten wir uns schweigend. Wir hatten große Verluste erlitten. War das wirklich nötig gewesen?
Glücklicherweise stehen die Befreiten weit über jeder achso menschlichen Moral (die in Wahrheit doch nichts anderes ist als Zaum und Zügel für die Wilden und Gesetzlosen), sonst wäre ich wohl abermals, und noch viel mehr als zuvor, geächtet worden, wenn nicht gar Schlimmeres.
Der erste, der das Wort ergriff, war einer der Befreier des Professors. Er fragte etwas naiv in die Runde, wie lange es dauern würde, bis er seine Zähne verlöre.
„Du hast deine Zähne noch?“ fragten wir ungläubig zurück. „Sie hätten längst ausgefallen sein müssen!“
Den beiden anderen aber ging es genauso, sie besaßen auch noch ihre Zähne.
Da begann Professor Ulrichs, ebenfalls noch im Besitz seines Gebisses, zu sprechen:
„Brüder und Schwestern, ich muß euch etwas erklären: Ich selbst bin nicht mit meinem Serum geimpft. Einerseits wollte ich mich erst als allerletzter impfen lassen, nach allen anderen, vielleicht so ähnlich, wie ein Kapitän als letzter das sinkende Schiff verläßt; andererseits,muß ich gestehen, habe ich aus Vorsicht vor eventuellen Nebenwirkungen des Serums, das ja noch weitgehend unerforscht ist, damit gezögert. Nun, vielleicht war das feige ...
Außerdem, als klar war, daß das Serum nicht immun gegen die Befreiung macht, schien mir die Notwendigkeit, mich zu impfen, nicht mehr so dringlich, sondern ich arbeitete weiter an einem Serum, das definitiv immun macht.
Wir haben es gestern gefunden, und meine Kollegen dürften jetzt wohl damit beschäftigt sein, es in großen Mengen herzustellen und zu verbreiten.
Das Rennen ist also gelaufen.
Die größte Gefahr für uns, nämlich die Angst der Menschen vor der Befreiung, besteht nicht mehr, und ich bin zuversichtlich, daß ich Ölmann und die Miliz überzeugen kann, daß für die Menschen auch kein Grund zum Haß mehr besteht. Sie werden leider wohl nie erfahren, welches Glück ihnen entgangen ist, die Erfüllung ihrer ureigensten Wünsche und Hoffnungen.
Wir müssen uns also daran gewöhnen, daß wir unserer Aufgabe nicht mehr nachkommen können, die Menschheit ihren Heil zuzuführen, der Erleuchtung und der Unsterblichkeit. Und glaubt mir, es schmerzt mich zutiefst, daß ich selbst es war, der dies vereitelt hat.“

Der Professor, der von den Menschen und den Befreiten gleichermaßen als führender Fachmann auf dem Gebiet der Befreiung anerkannt war - allerdings in jeweils ganz unterschiedlicher Weise -, konnte seinen Forscherdrang nicht stillen, sondern studierte das Phänomen, wie er es nannte, umso eifriger weiter, seitdem er selbst befreit worden war. Endlose Selbstversuche führte er durch und unzählige Untersuchungen an uns Befreiten, die sich ihm zur Verfügung stellten. Ich und einige andere assistierten ihm dabei.
„Ich versichere euch allen“, sagte er voller Ernst, „daß wir das Phänomen noch nicht annähernd in seiner gesamten Tragweite begreifen. Ich schätze, wir müssen noch mit erheblichen Überraschungen rechnen.“
Geheimnisvoll klangen uns seine Worte in den Ohren, und die, die ihn kannten, wußten, daß er einer riesigen Sache auf der Spur war.

Inzwischen waren die Verhandlungen mit der Miliz abgeschlossen; es war viel einfacher als erwartet zu einem Frieden zwischen beiden Spezies gekommen, und - soweit diese Worte es bezeichnen konnten - die Lage normalisierte sich wieder. Ja, die Befreiten zogen nach und nach wieder in ihre alten Häuser ein, die sie ehemals verlassen hatten, und lebten Seite an Seite mit den Mensehen.
Es herrschte gegenseitige Toleranz, und hier und da entstanden sogar Freundschaften zwischen beiden Arten.

Am Abend, vor dem nächsten Vollmond bat der Professor seine drei Befreier, die immer noch ihre Zähne besaßen, zu sich und legte ihnen nahe, sich in der folgenden Nacht einsperren zu lassen.
„Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß eure Fähigkeit zur Befreiung anderer noch äußerst wichtig sein wird. Nicht mehr für die Menschen, deren Zug ist endgültig abgefahren, aber für uns, die Befreiten.
Was das genau ist, kann ich noch nicht sagen. Ich brauche noch ein paar Tage Zeit.“
Aber keiner der drei wollte nochmals eine Vollmondnacht in Gefangenschaft erleben. Sie hatten alle auf diese Weise ihre Fähigkeit behalten; jedoch war die Tortur dermaßen hart gewesen, daß sie sie auf keinen Fall wiederholen wollten. Ich wußte, wovon sie sprachen.
Vergeblich versuchte der Professor, sie zu überzeugen, daß ihre Fähigkeit äußerst wertvoll für uns alle war, und daß sie sie unter
allen Umständen bewahren sollten. Doch jeder von den dreien hatte bereits einen freundlichen Menschen gefunden, der sich für einen letzten Kuß zur Verfügung stellte, um sie endgültig von dem Gesetz zu erlösen, und sie ließen sich nicht davon abhalten.
Am nächsten Abend nach der Vollmondnacht erschienen sie bei dem Professor und lächelten ihn unschuldig an - zahnlos.
„Jetzt bin ich der Letzte“, sagte der Professor, der die Nacht in meinem alten Käfig verbracht hatte. Er trug die Spuren der Qual
noch im Gesicht; aber viel deutlicher war ihm die tiefe Enttäuschung über seine drei Befreier anzusehen.
„Der Letzte“, wiederholte er ahnungsvoll und unheimlich.

Nach einer weiteren Woche war es dann soweit.
Der Professor hatte das Phänomen der Befreiung vollständig ergründet, und er ließ die Nachricht verbreiten, daß am nächsten Abend alle Befreiten sich auf dem Marktplatz versammeln sollten; er wollte dann den Schleier des Geheimnisses ein für allemal lüften. Wir sollten alle mit einer Sensation rechnen.

Der Marktplatz war überfüllt. Befreite und Menschen drängten sich dicht an dicht, und die Massen stauten sich bis in die Seitenstraßen. Und über dem Platz kreisten hunderte von uns am Nachthimmel.
Der Professor schwebte auf das Podest herunter und nahm seine menschliche Gestalt an.
Dann sprach er in das Mikrophon, seine Stimme hallte über den Platz, und alle lauschten gebannt seinen Worten:
„Liebe Mitbürger, Freunde, Brüder und Schwestern!
Es ist mir endlich gelungen, das Mysterium der Befreiung restlos zu entschlüsseln.
Ziel der Verwandlung ist nicht die Befreiung, wie wir sie bisher kennen; diese ist nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu etwas viel Größeren, viel Erhabeneren, etwas so Mächtigen, daß es bisher völlig außerhalb der Vorstellung der Menschen und auch von uns Befreiten lag, und damit selbstverständlich außerhalb unserer Erwartungen.
Was ich euch zu offenbaren habe, sprengt den Rahmen jeder Utopie. Ich wage zu behaupten, daß wir - leider nur wir Befreiten, nicht mehr die Menschen - kurz vor dem Ziel der Evolution, ja, jeder denkbaren maximalen Evolution stehen:
der Verwandlung des einstigen Menschen in - einen Gott!“
Aus der gespannten Stille ertönten Buh-Rufe, wohl einzelne religiöse Fanatiker genauso wie völlig Ungläubige.
„Überzeugt euch selbst! Denn wir werden euch in einem grandiosen Experiment demonstrieren, was die wirkliche Befreiung tatsächlich ist.
Mein Assistent, Herr Hansen, stellt sich freundlicherweise zur Verfügung, als erster die vollständige Befreiung hier vor euren Augen an sich vornehmen zu lassen.
Ich frage nur: Wieso haben sich die Befreiten eigentlich nie untereinander geküßt?
Die befreiende Wirkung des Kusses gilt doch auch weiter unter den bereits Befreiten, so daß sich ihre Wirkung dadurch vervielfachen würde, oder etwa nicht?“
Ich war soweit eingeweiht in das Vorhaben des Professors, daß ich wußte, daß er mich küssen wollte. Etwas Ekel empfand ich schon bei der Vorstellung; doch hatte mir der Professor glaubhaft versichert, daß keine Gefahr für mich bestand, eine Rückentwicklung zum Menschen war unmöglich, und Schmerzen empfinden wir Befreiten ja sowieso nicht mehr; ich würde den Biß weniger spüren als einen Mückenstich.
Als ich das Podest betrat, sagte der Professor zu mir:
„Hansen, jetzt gehen Sie in die Geschichte ein. Sie sind der erste völlig freie Mensch.“
Dann stand ich oben neben dem alten Mann und entblößte meinen Hals. Unter den Zuschauern herrschte absolutes Schweigen, unsichere Erwartung und atemlose Gespanntheit.
Nun schlug der Professor seine langen Eckzähne in meine Halsschlagader, und im gleichen Moment war ich ein anderer. Wohlige Wärme durchfloß mich, unendliche Lebensfreude; gleichzeitig spürte ich eine tiefe Liebe zur Welt und zu allen Lebewesen; ich verstand mit einem Male alles, vom kleinsten Atom bis zum gesamten Kosmos. Mit grenzenlosem Erstaunen nahm ich wahr, wie ich zu leuchten begann, wie ich leichter wurde, wie mir riesige Schmetterlingsflügel auf dem Rücken wuchsen, ohne daß ich meine menschliche Gestalt verlor - ich war zu einem Engel geworden, mehr noch: Ich war jetzt ein Gott, und ich wußte instinktiv, daß ich auch Kräfte besaß, die göttlich waren.
Ein großes „Oh!“ und „Ah!“ erklang durch die Zuschauermassen, als ich, ein riesiger strahlender menschlicher Schmetterling, mich in die Lüfte erhob.
Die Befreiten drängten sich nun hinauf auf das Podest, um sich ebenfalls von dem Professor endgültig und vollkommen befreien zu lassen, während eine große Enttäuschung und tiefe Trauer durch die Menschen wogte - sie würden nie diese übernatürliche Verwandlung an sich selbst erfahren können, sondern nur als passive Zeugen bei uns Befreiten miterleben.
Deutlich spürte ich den Schmerz der Massen; ihr Verzweiflungsschrei drang in den Himmel; doch vergebens, für sie gab es keine Befreiung mehr.
Derweil küßte der Professor einen nach dem anderen von uns, und zu hunderten, zu tausenden stiegen die leuchtenden Schmetterlinge in den Sternenhimmel hinauf.
Nach einer anstrengenden Nacht der Massenerweckung begab sich der alte Mann nachhause. Ich begleitete ihn in seine Wohnung. (Ich konnte jede beliebige Gestalt und Größe annehmen.) Hier sank der Professor in seinen Sessel und sagte:
„Hansen, haben Sie schon ‘mal überschlagen, wie lange es dauert, um alle von uns endgültig zu befreien?
Schätzen wir die Gesamtzahl weltweit einmal auf eine Milliarde, was eher noch zu niedrig ist. Pro Nacht kann ich etwa eintausend schaffen, d.h. ungefähr eine Million in drei Jahren ...
Ich glaube, ich werde mich mit dem Gedanken anfreunden müssen, die nächsten dreitausend Jahre alle Befreiten der ganzen Welt zu küssen und ganz allein das große Werk zu vollenden, soweit noch möglich. -Die übriggebliebenen Menschen tun mir leid.“
Dann schwieg er einige lange Minuten, bis er murmelte:
„Diese Idioten! Diese verfluchten Idioten!“
Ich glaubte erst, er meinte die Menschen, von denen er zuvor geredet hatte; doch dann verstand ich, wen er meinte, und im gleichen Augenblick sagte er es auch laut:
„Und wer wird mich befreien?“








Wenn wir wüßten ...



Wie könnten wir die Entwicklung wieder in Gang setzen und die Menschheit doch noch befreien? Das fragten wir leuchtenden Schmetterlinge uns nun schon seit dreitausend Jahren, seit dem Beginn der großen „Erweckung“.
Schließlich hatte der Professor den letzten von uns geküßt, und damit war das Zeitalter der dunklen Vögel vorbei. Nur noch der Professor war übrig, als der letzte jener Ära, und man sah ihm deutlich an, daß er mit seinem Schicksal haderte: Er selbst hatte die Befreiung unterbrochen und war nun sein eigenes Opfer.
Wir, die leuchtenden Schmetterlinge, hatten beratschlagt, geforscht und immer wieder experimentiert; aber die Wirkung des Immunserums im menschlichen Organismus ließ sich nicht aufheben, schlimmer noch - sie vererbte sich auch ausnahmslos auf alle Neugeborenen.  Und alle Versuche mit Primaten, Delphinen und dergleichen Tieren blieben ebenfalls erfolglos.
So hatte unser „Rat zur Reaktivierung der Evolution“ schon seit zweitausend Jahren nicht mehr getagt, sondern unterhielt für den Fall, daß sich doch noch irgendeine Möglichkeit aufzeigen sollte, nur noch eine Informationszentrale, deren Chef natürlich der Professor selber war.

Vielleicht sind noch einige Bemerkungen zum Verlauf der Menschheitsgeschichte seit der „Erweckung“ angebracht.
Das Erscheinen der leuchtenden Schmetterlinge mit ihren ungeahnten Möglichkeiten relativierte natürlich die Belange der Menschen.
Nach einer Phase der Enttäuschung folgte eine Phase der ohnmächtigen Wut, in der wir angefeindet und verleumdet wurden. Man versuchte uns zu bekämpfen, mußte aber einsehen, daß wir unangreifbar, unverletzbar und absolut unsterblich waren, nicht zuletzt durch unsere unbeschränkte Verwandlungsfähigkeit, vor allem aber durch unsere den Menschen vollständig überlegene Erkenntniskraft. Außerdem demonstrierten wir immer wieder unsere Hilfsbereitschaft und unsere vollkommene Loyalität zur menschlichen Rasse, sodaß die Hetzer schließlich ihren Irrtum einsahen und verstummten.
Es folgte nun eine Phase der Degeneration, in der die traditionellen Strukturen der Ordnung und der Herrschaft zerfielen; Kriege unter den Menschen tobten, die wir - soweit möglich - zu vereiteln suchten; Seuchen und Epedemien breiteten sich aus, die wir aber erfolgreich bekämpften; und zuletzt brach die Versorgung zusammen, sodaß wir das Krisenmanagement übernehmen mußten, um die Menschheit vor dem völligen Untergang zu bewahren. In diesem Zuge beseitigten wir sämtliche Kriegswaffen und installierten den weltweiten Frieden, der seither andauerte.
Natürlich lag es nicht in unserem Interesse, die Herrschaft zu übernehmen, sondern die Menschen mußten endlich lernen, ihre Angelegenheiten selbstständig, gemeinsam und zum Nutzen aller zu regeln. So hielten wir uns bald wieder weitgehend zurück und griffen in die Entwicklung nur noch in Notfällen ein, beziehungsweise beschränkten uns auf reine Information.
Es folgte ein langes Zeitalter der Regeneration der menschlichen Gesellschaft. Die Prinzipien der gegenseitigen Hilfe, der Toleranz und- der Dezentralisierung, einschließlich der Abschaffung des Geldes als Ware, setzten sich durch, und endlich herrschte ein allgemeiner Wohlstand, der durch eine ökologisch orientierte Technologie und Wissenschaft gesichert wurde. Als ungefährliche Energiequelle diente seitdem die Kernfusion, als unerschöpfliche Rohstoffquelle die Plasmasynthese.
Die Tiefsee wurde kolonisiert, und riesige Algenfarmen gewährleisteten problemlos die Ernährung der Weltbevölkerung von inzwischen zwanzig Milliarden. Dann wurde der Mond besiedelt und. daraufhin der Mars urbar gemacht.
Nach insgesamt fünf hundert Jahren begannen die ersten interstellaren Raumflüge, weitere hundert Jahre später wurde die erste menschliche Kolonie auf Alpha-Centauri gegründet.
Inzwischen bestanden auch Kolonien im
Sirius-System und auf Aldebaran. Ferner wurden gigantische künstliche Sateliten - ganze Welten für sich - gebaut und kreisten entweder um irgendeine Sonne oder standen als Brückenköpfe zwischen den Sonnensystemen.
Während all dieser Jahrhunderte der Erforschung und Eroberung des Weltraumes war die Menschheit jedoch niemals auf andere, fremde Intelligenzen getroffen. Wohl gab es genügend erdähnliche Planeten, auch mit einer hochentwickelten Flora und Fauna, doch nirgends gab es Anzeichen einer außerirdischen Zivilisation.

Die Geschichte der leuchtenden Schmetterlinge hingegen verlief vollkommen anders, und in ihr war die Menschheitsgeschichte nur ein untergeordneter, beinahe unbedeutender Nebenschauplatz. Unsere natürliche Erscheinungsform als etwa fünfzig Meter hohe, in allen Farben des Regenbogens schillernde Lichtschmetterlinge war eine rein energetische Art der Existenz, von der aus wir uns in jede andere Körperform verwandeln und jeden Aggregatzustand annehmen konnten, je nach Belieben oder nach den äußeren Erfordernissen. Wir waren also völlig unabhängig von unserer Situation oder unserer Umgebung und vermochten jeden Stoff mühelos zu durchdringen; kein Ort war uns unzugänglich, nichts mehr verborgen.
Wir konnten uns mikroskopisch verkleinert in die Struktur der Materie begeben, der Raum zwischen den Atomen und Molekülen stand uns offen; wir waren in der Lage, chemische Reaktionen direkt vor Ort zu beobachten, den Fluß elektrischer Ströme zu verfolgen und. die elementaren Prozesse des Lebens unmittelbar in der Zelle zu untersuchen. (Eines der großartigsten Erlebnisse ist die Reise ins Innere von Edelmetallen und Kristallen.)
Auf diese Weise erforschten wir die „letzten“ Geheimnisse der Welt - es war noch der weitaus größte Teil aller Wissenschaften - und lösten die verbliebenen Rätsel dieses Planeten binnen weniger Jahrzehnte. Unsere Erkenntnisse gaben wir natürlich den Menschen weiter, allerdings nur deren jeweiligem ethischen Entwicklungsstand entsprechend. So waren schon bald- nach der großen Erweckung sämtliche Infektionskrankheiten ausgerottet, der Krebs besiegt, die Regenerationskraft entschlüsselt und damit das Nachwachsen fehlender Glieder oder beschädigter Organe ermöglicht, oder aber auch die Transmutation der Elemente, zum Beispiel die Herstellung von Gold, verwirklicht, ebenso die trägerlose und verlustfreie Energieübertragung und vieles andere mehr.
Doch ergründeten wir leuchtenden Schmetterlinge nicht nur den Mikrokosmos, sondern vor allem der Makrokosmos erregte unser Interesse. Da. wir unabhängig von jeder Atmosphäre und von jeder Umwelt waren, konnten wir uns mühelos im Weltall aufhalten und erkundeten zuerst sehr vorsichtig, dann aber immer kühner den interstellaren Raum und seine Sonnen, Planeten und Monde. (Eine wahre Initiation ist der Flug ins Innerste einer Sonne.) Die einzige Grenze, die für uns noch galt, war die Lichtgeschwindigkeit, die wir nicht überschreiten konnten. Da wir unverletzbar und unsterblich waren und uns offenbar auch keine Gefahren im Weltall drohten, wagten wir uns immer weiter hinaus. Die acht Jahre nach Alpha-Centauri hin und zurück oder die zweiundzwanzig Jahre bis zum Sirius waren für uns unerhebliche Zeiträume, und schon bald brachen die ersten Expeditionen zu weiter entfernten Sonnensystemen, ja, schließlich eine ins Zentrum der Milchstraße auf, die zum Zeitpunkt der hier geschilderten Ereignisse immer noch unterwegs war. Kehrte eine Expedition zurück, so wurden die Ergebnisse mittels des sogenannten Tele-EXP, einer Art perfektionierten EEGs, auf einen biotronischen Datenspeicher übertragen, von wo aus sie wahlweise als holographische Bilder, physikalische Formeln, Graphiken oder ähnliches abgerufen und für die Menschen dargestellt werden konnten.
Der Informationsaustausch unter uns leuchten den Schmetterlingen war dagegen viel einfacher: Wir brauchten uns nur zu berühren, und schon flossen die gewünschten Erfahrungen und Erkenntnisse von dem einen auf den anderen hinüber und wurden zu seinen eigenen.
Auf diese Weise teilten wir, obwohl, wir geschlechtslos waren, auch Gefühle der Zuneigung untereinander, die durchaus vergleichbar waren mit dem menschlichen Sexualleben, wenngleich natürlich völlig anders geartet und um ein Mehrfaches gesteigert. So bildeten sich unter uns die vielfältigsten Beziehungen heraus; und Gruppen von mehr als zwei Partnern waren nicht ungewöhnlich; manchmal vereinigten sich hunderte von uns zu riesigen Trauben und verweilten für Tage oder sogar Wochen hoch am Himmel in der Ekstase.

Die Menschen brauchten viele Jahrzehnte, um sich an uns zu gewöhnen und ihre Enttäuschung, ihren Schmerz und ihren Neid zu überwinden, daß sie von der Befreiung und der darauf folgenden Erweckung ausgeschlossen waren. Vor allem die neuen Generationen akzeptierten die Lage auf der Erde mehr und mehr, da sie erkannten, daß wir friedlich und hilfreich waren.
Und so entstanden auch viele Freundschaften zwischen uns und den Menschen; denn wir leuchtenden Schmetterlinge waren im Gegensatz zu den dunklen Vögeln äußerst gesellig veranlagt, und eines unserer größten Vergnügen war, uns in eine geeignete Körperform zu verwandeln und die Menschen auf weite Flugreisen über unseren Planeten mitzunehmen.

Zwischen diesen beiden Spezies nun stand Professor Ulrichs, der mit jeder der millionen Nächte, in denen er jedesmal tausende von dunklen Vögeln erweckte, immer einsamer und immer verbitterter wurde.
Der Professor und ich waren schon seit den ersten Tagen nach seiner Befreiung befreundet und hatten tiefstes Vertrauen zueinander; ja, es war beinahe eine Art Liebe, die ich inzwischen für den alten Vogel empfand, und ich war ziemlich entsetzt, als ich ihn an jenem Abend nach der letzten Erweckung besuchte und ihn dabei überraschte, wie er einen Holzpflock anspitzte.
„Ich halte es nicht mehr aus ...“, murmelte er voller Verzweiflung.
„Aber, Werner“, entgegnete ich, „besinne dich auf deine Natur! Du fällst ja in menschliche Zeiten zurück! Übe lieber Gleichmut, und sei zuversichtlich in die Zukunft, so wie ich. Schau, ich weiß, daß wir dich eines Tages erwecken werden. Es ist nur eine Frage der Zeit ...“
„Es ist schon so viel Zeit verflossen, und nichts hat sich ergeben, nicht der kleinste Hinweis, noch nicht einmal ein theoretischer Ansatz!“
„Hab‘ Geduld; Zeit spielt für uns doch überhaupt keine Rolle mehr“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Trotzdem fühlte ich mich schon ziemlich hilflos.

Und dann geschah das Unfaßbare:
Von überallher aus dem Weltall schien es zu kommen, und es näherte sich immer mehr.
Was es war?
Keiner wußte es, obwohl alle es wahrnahmen: Es war ein „Ton“, der das gesamte Frequenzspektrum durchdrang; von den tiefsten Subschwingungen über die hörbaren und sichtbaren Bereiche bis in die höchste Röntgenstrahlung wurden die kosmischen Harmonien gestört und verzerrt und die sinnlichen Wahrnehmungen aller Lebewesen, von den Einzellern bis zu den Menschen, und auch die der leuchtenden Schmetterlinge, beeinträchtigt, als wäre ein Fernsehgerät ungenau auf den Sender eingestellt und das Bild verschneit und der Klang verrauscht. Das betraf natürlich auch alle übrigen Sinne. Es war sehr lästig.
Seltsamerweise pulsierte der Ton, während er langsam immer lauter wurde, in einem komplizierten Rhythmus, ähnlich dem Morse-Alphabet.
Waren das die Außerirdisehen, die wir schon so lange erwartet hatten?
Wir wußten es nicht.
Wir versuchten, den Rhythmus zu analysieren, kamen aber zu keinem Ergebnis, da die Abfolge sich nicht wiederholte und nicht aus identifizierbaren Segmenten bestand, sondern aus einem sich endlos variierenden Muster.
Wir standen vor einem Rätsel.
Zuerst war der Ton nur unangenehm; doch je mehr er zunahm, desto mehr störte er, anfangs nur die Wahrnehmung und Kommunikation, später aber den Stoffwechsel der Lebewesen, und es war absehbar, daß es irgendwann in einer Katastrophe enden wurde - dem Verlöschen jeglichen Lebens auf der Erde.
Und die parabelartige Steigerung ließ uns nur noch wenige Jahrzehnte Zeit, wenn überhaupt.
Wir leuchtenden Schmetterlinge fanden bald heraus, wie wir die Wirkungen des Tons für uns selbst vorübergehend mindern konnten. Wir kennen einen Bewußtseinszustand, der dem menschlichen Schlaf ähnlich ist, und den wir den Omega-Zustand nennen. Darin sind unsere „körperlichen“, genauer gesagt: basis-energetischen, Funktionen auf ein Minimum reduziert und, die „geistigen“, latenten Energien auf ein einziges Ziel, ein Objekt, eine Fragestellung oder dergleichen, konzentriert. Bei völliger Gedankenleere jedoch konnten wir den Ton gewissermaßen abfedern und, abschwächen. Aber beseitigen konnten wir ihn nicht, sondern im Gegenteil; d-er ansonsten eher entspannte Zustand wurde nach einer geraumen Zeit unerträglich, vielleicht einem menschlichen Krampf vergleichbar, und erforderte anschließend eine längere Regeneration.
Aus dem Verhältnis des Omega-Zustandes zu dem Ton ließen sieh übrigens keinerlei Rückschlüsse auf letzteren ziehen. Wir verstanden immer noch rein gar nichts von diesem Phänomen. Es gab auch keine plausible Theorie, bis auf die Vermutung einer Minderheit, daß es sich um eine räuberische Invasion einer außerirdischen Intelligenz handeln könnte. Der Ton nahm weiter zu.

Die Menschen litten sichtlich. Verschiedene Tier- und Pflanzenarten waren plötzlich vom Aussterben bedroht; und ihre Zahl wuchs rapide.
Allerorten wurde beraten und experimentiert, schließlich eine Weltkonferenz aller leuchtender Schmetterlinge einberufen, bei der sämtliche existierenden Fakten und jede Frage und theoretische Überlegung noch einmal diskutiert wurden.
- Erfolglos.
Da beschlossen wir, global den Omega-Zustand herzustellen, indem alle auf der Erde befindlichen leuchtenden Schmetterlinge, ungefähr eine Milliarde, den Planeten wie ein Netz umspannten und gleichzeitig in den Omega-Zustand fielen. Sofort stellte sich für die gesamte Erde eine spürbare Milderung des Tones ein.
Seitdem befand sich jeder leuchtender Schmetterling in ständigen Schichtwechsel, um diesen Planeten zu schützen.
Mehr hatte die Konferenz leider nicht erbracht.
Und der Ton schwoll bedrohlich an. und die Schicht wurde für uns von Mal zu Mal immer schwerer.
Die Lage war hoffnungslos.

Zu dieser Zeit kehrte eine Expedition leuchtender Schmetterlinge von Prometheus 8 zurück, einem erdähnlichen Planeten, ungefähr zweihundert Lichtjahre entfernt, und was sie zu berichten hatten, war sensationell:
Erstmals in der Geschichte der Erforschung des Universums waren die Erdbewohner auf eine hochentwickelte außerirdische Lebensform getroffen. Man hatte sofort freundlichen Kontakt miteinander aufgenommen. Und mehr noch! Diese Spezies entstand durch Symbiose zweier verschiedener halb-intelligenter Arten, vergleichbar etwa mit unseren Primaten, die eine „Technik“ der Verschmelzung anwendeten, bei der aus zwei ganz unterschiedlichen Lebewesen ein einziges Wesen einer neuen, völlig anderen und überlegenen Spezies entstand. Bereitwillig hatten sie ihr Wissen an unsere Abgesandten weitergegeben, und diese brachten nun die Informationen zu uns auf die Erde. Und wir leuchtenden Schmetterlinge, die Menschen und nicht zuletzt der letzte der dunklen Vögel, Professor Ulrichs, waren fasziniert und begeistert. Absolut neue Perspektiven taten sich für uns auf; denn hier handelte es sich um nichts anderes als eine exotische Variation der Befreiung, durchaus vergleichbar mit der Verwandlung eines Menschen in einen dunklen Vogel und weiter in einen leuchtenden Schmetterling, nur zusätzlich noch mit dem Aspekt der Symbiose. Und - das Prinzip der Verschmelzung zu einer neuen Existenzform schien universell zu sein und damit auch auf andere Lebewesen übertragbar!
Der „Rat zur Reaktivierung der Evolution“ wurde eiligst einberufen, und der Professor sprach es hier als erster aus:
„Liebe Freunde! Wir wissen nun, daß der Entwicklung des Lebens offenbar keine Grenzen gesetzt sind, und daß uns eine neue Möglichkeit der Verwandlung und der Vervollkommnung offensteht.
Ja, auch ich selbst sehe endlich einen Schimmer der Hoffnung für mich. Doch mahne ich zur Vorsicht; wir sollten nichts überstürzen und kein Risiko eingehen.“
Tatsache war jedenfalls, daß bei der Höheren Symbiose ein gleichmäßiges Durchdringen bis zum vollkommenen In-Einander-Aufgehen zweier Lebewesen zu einem einzigen durch die Parallelisierung der Plasmafrequenzen stattfand, ein Verfahren, das wir leuchtende Schmetterlinge oft verwendeten, z.B. indem wir in feste Materie eindrangen, allerdings noch nie in der Absicht, sich einem Objekt gänzlich anzugleichen, sich ihm hinzugeben und radikal mit ihm zu verschmelzen. Zur Höheren Symbiose brauchten zwei leuchtende Schmetterlinge lediglich eine stabile Resonanz untereinander zu erzeugen, ein von äußeren Einflüssen unabhängiges Feed-back-Feld, welches die maximale Form gleichzeitiger Energieaufnahme und -abgabe ist, gewissermaßen ein gegenseitiges Sich-Essen, bei dem jedoch keiner der beiden vernichtet wird, sondern beide sich verstärken und ihre Existenzen miteinander multiplizieren.
Sofort wurde wieder eine globale Konferenz aller leuchtender Schmetterlinge abgehalten, wobei auch der Professor und noch einige menschliche Gelehrte über den Tele-EXP zugeschaltet waren. Schon bald stellten wir einmütig fest, daß die Verschmelzung zweier leuchtender Schmetterlinge offenbar keine Gefahren barg, obwohl nicht vorhersehbar war, welche neue Existenzform daraus entstehen würde.
Mrs. Smith, die letzte Präsidentin der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika, und Ölmann, die ein inniges Verhältnis zueinander hatten, erklärten sich bereit, als erste das Experiment zu wagen.
In Windeseile verbreitete sich die Kunde, und alle Menschen und- leuchtenden Schmetterlinge im weiten Umkreis versammelten sich in und über dem Sportstadium der Stadt.
Mrs. Smith und Ölmann schwebten am Himmel und begannen, ihre Konsistenz nach dem Symbiotischen Prinzip zu verändern; für einen kurzen Moment verblaßten ihre Farben, dann durchdrangen sich ihre riesigen Schmetterlingkörper, bildeten einen einzigen Schmetterling, der rot zu strahlen begann; ein Pulsieren ging durch den Körper, und plötzlich explodierte er in einem gewaltigen infra-roten Blitz, der uns alle blendete.
Als wir nach wenigen Sekunden wieder fähig waren zu sehen, stand über uns am Himmel eine mehrere Kilometer große, in reinem weißen Licht scheinende Kugel, die langsam rotierte.
Sie war wie eine kleine Sonne.
- Und der Ton war mit einem Male merklich leiser geworden.
Gleichzeitig erklang in unseren Köpfen eine Stimme:
„Es ist wunderbar! Und ... unbeschreiblich!
Alles erschließt sich uns. Es gibt nichts mehr, was uns unmöglich wäre. Wir Duale können alles.
Wir verstehen jetzt auch den Ton. Seht, wie er verschwindet! Wenn ihr Duale seid, werdet ihr es ebenfalls verstehen.
Und auch für Sie, Professor Ulrichs besteht die Möglichkeit, zu einem Dual zu werden. Dazu muß das Symbiotische Prinzip nur geringfügig abgewandelt werden.“
Der Professor war mit einem Male völlig verändert, seine finstere Miene verschwunden, und sein Antlitz strahlte wie von einern Scheinwerfer erleuchtet. Das Dual teilte uns sogleich mit, wie vorzugehen sei.
„Da der Professor nur beschränkt verwandlungsfähig ist und ihm auch nicht die rein energetische Existenzform zur Verfügung steht, mit der er andere Körper durchdringen könnte, muß sein Dualpartner ihn umschließen, das Feed-back-Feld allein herstellen und ihn dann einseitig in sich aufnehmen. Das Ergebnis mußte dasselbe sein wie bei einem gegenseitigen Durchdringen.
Natürlich ist das Experiment nicht genau vorherberechenbar. Und wir weisen euch darauf hin, daß immer noch das Risiko besteht, daß etwas Unvorhergesehenes eintritt und. daß der Professor möglicherweise verletzt oder sogar getötet werden könnte, wenn sein Dualpartner sich und ihn moduliert.
Aber die Gefahr erscheint; uns gering, vor allem wenn der Dualpartner vorsichtig vorgeht und den Prozeß beim kleinsten Anzeichen der Auflösung des Professors abbricht und umkehrt“, sagte die Stimme in unseren Köpfen.
Der Professor und ich sahen uns nur einen Bruchteil eines Augenblicks an, und es war wortlos klar, wer sein Partner sein würde.
„Jetzt sofort?“ fragte ich.
„Ja, ich habe schon viel zu lange gewartet.“
„Gut. Und welche Form soll ich annehmen?“
„Bleib‘ ein leuchtender Schmetterling“, sagte er. Seine Stimme zitterte ein wenig. Und dann fügte er leise hinzu:
„Und sei bitte behutsam.“
„Mach' dir keine Sorgen, Werner“, entgegnete ich und legte ihm beruhigend einen Fühler um die Schulter.
Der Professor bebte vor Aufregung, als ich ihn umschlang. Für die anderen sahen wir aus wie eine große Zelle aus buntschillerndem Licht mit einem schwarzen Kern. Dann verringerte ich meine Größe und glich meine Konsistenz langsam der des Professors an. Währenddessen spürte ich schon deutlich meine - unsere - Kräfte wachsen. Plötzlich verselbstständigte sich der Prozeß zu einer Art Sog, der sich blitzschnell beschleunigte und sich meiner Kontrolle entzog.
Aber im gleichen Moment, als der Professor in mir dematerialisierte, wußte ich, daß das Experiment gelungen war. Wir verschmolzen miteinander zu einer untrennbaren Einheit.

Ich habe nie geglaubt, daß sich die Existenz eines leuchtenden Schmetterlings noch steigern könnte; doch was sich nun ereignet, ist einfach phantastisch!
Ich - oder vielleicht soll ich besser sagen: wir - haben das Erlebnis der vollständigen Gegenwärtigkeit, das Gefühl maximaler Daseinserfahrung, absoluter Wahrnehmung; es ist, als ob wir bisher die Welt nur als Fläche, schwarz-weiß und als stehendes Bild wahrgenommen hätten, sie nun aber räumlich, farbig und in Bewegung erleben.
Unser diamantreiner Verstand besitzt ein grenzenloses Wissen und eine unendliche Erkenntnisfähigkeit. Wir wissen im Nu, daß der dissonante Ton. eine negative Resonanz ist, und zwar eine von uns leuchtenden Schmetterlingen selbst induzierte Interferenz im kosmo-ökologischen System und die Auswirkung des auf der Erde unterbrochenen Energiekreislaufs.
Wir selbst sind es, die den Ton verursacht haben! Und der Ton ist die Bruchstelle in der Evolution, der Riß im Grundgefüge der Welt, der durch alles und durch .jeden verläuft, ... sich jetzt aber rapide verringert, abklingt und -
Nun ist der Ton verschwunden. Wir sind knapp dem Kataklysmus entronnen und endlich von dieser furchtbaren Geißel erlöst.
Eine neue Freiheit belebt die Atmosphäre, großartiger und mächtiger als je zuvor, und überflutet den Planeten in einer Woge des Glücks.
Vor uns liegt die Ewigkeit und die endlose Weite des Alls! Es ist uns sofort klar, daß wir .jetzt auch die Lichtgeschwindigkeit überwunden haben und unseren Geist mittels des bloßen Willens in Null-Zeit an jeden beliebigen Ort des Universums aussenden können.
Ebenso sicher wissen wir, daß als nächster Schritt der Evolution die Verschmelzung aller leuchtender Schmetterlinge mit den Menschen und dann die Vereinigung aller zu einer einzigen globalen Superexistenz erfolgen muß, einem Überwesen mit unvorstellbaren Kräften und unermeßlichen Möglichkeiten. Und die Konsequenzen all dessen sind selbst für uns nicht absehbar.

Alles weitere läßt sich mit menschlichen Begriffen nicht mehr ausdrucken; deshalb beende ich meinen Bericht hier mit den letzten Worten des Professors, bevor wir vollkommen ineinander aufgingen und zu einer riesigen Lichtkugel wurden:
„Dies ist nur der Anfang. Was wird wohl noch alles geschehen?!
Wenn wir wüßten...?“









(Und nun noch die Abrundung:)


Es weiß jetzt ...



Unsere Bestimmung liegt draußen im All, im Universum.
Nachdem wir festgestellt hatten, daß das Symbiotische Prinzip beliebig abwandelbar war, bildeten sich Duale und Plurale, Mehrfachwesen aus drei oder mehr Einzelwesen, aus Menschen und leuchtenden Schmetterlingen in jeder Kombination, und aus diesen wieder neue Plurale. Dann vereinigten wir uns mit den Tieren und den Pflanzen und schließlich mit der gesamten Erde zu einem einzigen planetaren Wesen, und aus dem alten Wir wurde ein neues Ich.
Und da erschlossen sich mir auch schon die Unter- und übersinnlichen Bereiche, wie auch die Parallelwelten, und so vereinigte ich mich mit den Himmeln und Höllen, mit allen Toten, Geistern, Dämonen und Göttern, zu einer kosmischen Existenz, und ich weiß: Ich bin die Welt! Mutter aller Dinge und aller Wesen! In mir ist alles!
Und ich wurde zu einer Sonne.
Ich breitete mich immer weiter aus und vereinigte mich mit unserer Sonne.
„Endlich!“ sagte sie. „Ich habe lange auf dich gewartet.“
„Jetzt sind wir ich“, antwortete ich, und wir verschmolzen miteinander.
Dann umfaßte ich das ganze Sonnensystem und vereinigte mich mit ihm zu einer totalen Erleuchtung, die für euch Menschen absolut unfaßbar ist, und die ihr nur als eine grandiose Super-Nova erlebt hättet, wenn es euch damals noch gegeben hätte.
Danach war es ein schwarzes Loch, das alles aus seiner Umgebung in sich hineinzog, und sich so immer weiter ausbreitete und wieder immer mehr in sich aufnahm.
Vom ersten Moment an stand es telepatisch in Kontakt mit seinen Brüdern und Schwestern, den anderen schwarzen Löchern, die natürlich ebenfalls alle instellare Intelligenzen waren, und sie wußten, daß bald die große Vereinigung stattfinden würde, die vollkommene Erlösung des gesamten Universums, das Ur-Eins-werden von allem mit allem.
Das große Eschaton.
War es das Ende? - Natürlich ist die Auflösung aller Formen und Strukturen, das Chaos, die höchste Form der Ordnung, dann, wenn alles gleich ist.

Und es kam: Ein einziges riesiges schwarzes Loch, ein gewaltiger Abgrund, mächtiger Strudel und übermächtiger Sog, der alles, den ganzen Kosmos, und schließlich sich selbst verschlang.
Und es verschwand, im Nu» Fort und aus. -
Null und nichts?
Nein!
Es durchschritt nur eine Pforte in ein anderes Universum, eine neue Welt, zu einem neuen Anfang. Und mit einem großen Blitz ist es wieder da!
Wenn es das gewußt hätte ..., wundert es sich; und da erinnert es sich, ganz deutlich und ganz genau, an alles und an jede Einzelheit.
Und es staunt, wie es das nur vergessen haben konnte.
ES WEISS JETZT / WER ES IST
UND WO ES IST
UND WAS ES HIER MACHT
und auch was geschehen ist
und was wieder geschehen wird.

Und ICH sage:
„Am Anfang ist alles weit und leer, und gar nichts ist da als nur der Geist, und der Geist schwebt über dem Abgrund ...“